Die Traditionshypothese als Alternative zur Zweiquellentheorie:
Ihre neueren Vertreter, ihre Argumente, ihre Beurteilung*
Sönke Finnern
*Wissenschaftliche Hausarbeit (M. A. Thesis) an der FTA
Gießen, April 2001 (leicht korrigierte Fassung).
Stark komprimiert erschienen in: JETh 16 (2002).
Übersicht
1. EINLEITUNG (S. 1)
1.1 Einleitende Bemerkungen (S. 1)
1.2 Definitorisches (S. 2)
1.3 Die Ziele dieser Arbeit (S. 4)
1.4 Der Aufbau dieser Arbeit (S. 4)
2. DIE NEUEREN VERTRETER DER TRADITIONSHYPOTHESE
(S. 5)
2.1 Vertreter der Traditionshypothese bis 1970
(S. 5)
2.2 Vertreter der Traditionshypothese seit 1970
(S. 7)
2.2.1 Übersicht über
neuere Vertreter (S. 7)
2.2.2 John Rist (1978)
(S. 13)
2.2.3 Bo Reicke (1984, 1986)
(S. 16)
2.2.4 John Wenham (1991)
(S. 21)
2.2.5 Eta Linnemann (1992)
(S. 24)
3. ARGUMENTE DER TRADITIONSHYPOTHESE (S.
30)
3.1 Externe Evidenz (S. 30)
3.1.1 Lukasprolog (S.
30)
3.1.2 Aussagen der Alten Kirche
(S. 32)
3.1.2.1
Zur Existenz eines aramäischen Mt (S. 32)
3.1.2.2
Zur Reihenfolge der Evangelien (S. 33)
3.1.2.3
Zu einer literarischen Abhängigkeit (S. 34)
3.2 Interne Evidenz (S. 35)
3.2.1 Stoffauswahl (S.
35)
3.2.1.1
Anteil an gemeinsamen Perikopen (S. 35)
3.2.1.2
Sondergut bei Mk (S. 36)
3.2.1.3
Kleinere Überhänge (S. 36)
3.2.1.4
Doppelüberlieferungstexte Mk/Q (S. 37)
3.2.2 Stoffanordnung
(S. 38)
3.2.2.1
Übereinstimmende Reihenfolge (S. 38)
3.2.2.2
Die Platzierung des Q-Stoffes (S. 38)
3.2.3 Wortlaut (S. 39)
3.2.3.1
Die Höhe der Wortlautübereinstimmungen (S. 39)
3.2.3.2
Das Vorkommen hoher Wortlautübereinstimmungen (S. 40)
3.2.3.3
Das Vorkommen niedriger Wortlautübereinstimmungen (S. 41)
3.2.3.4
Die Unterschiedlichkeit der Wortlautübereinstimmungen (S. 42)
3.2.3.5
Gemeinsamer Wortschatz (S. 43)
3.2.3.6
Minor Agreements (S. 43)
3.2.3.7
Unerklärbare Redaktion (S. 44)
3.3 Historische Überlegungen (S. 47)
3.3.1 Die Bedeutung der apostolischen
Lehre in der Urgemeinde (S. 47)
3.3.2 Existenz einer mündlichen
griechischen Tradition (S. 48)
3.3.3 Die Festigkeit der mündlichen
griechischen Tradition (S. 49)
3.3.3.1
Memorieren (S. 50)
3.3.3.2
Möglichkeit von Notizen (S. 51)
3.3.3.3
Stilisierung der Geschichten (S. 52)
3.3.4 Die Fortdauer der festen
mündlichen Tradition bis zur Abfassung der Evangelien (S. 52)
3.3.5 Der Vorzug der mündlichen
Tradition ("viva vox") (S. 53)
4. ARGUMENTE GEGEN DIE TRADITIONSHYPOTHESE
(S. 55)
4.1 Externe Evidenz (S. 55)
4.1.1 Lukasprolog (S.
55)
4.1.2 Aussagen der Alten Kirche
(S. 56)
4.2 Interne Evidenz (S. 57)
4.2.1 Stoffauswahl (S.
57)
4.2.1.1
Anteil an gemeinsamen Perikopen (zu 3.2.1.1) (S. 57)
4.2.1.2
Abwesenheit der Q-Tradition bei Mk (S. 58)
4.2.2 Stoffanordnung
(S. 58)
4.2.3 Wortlaut (S. 58)
4.2.3.1
Die Höhe der Wortlautübereinstimmungen (zu 3.2.3.1) (S.
58)
4.2.3.2
Gleiche Parenthesen (S. 59)
4.2.3.3
Die Andersartigkeit des Johannesevangeliums (S. 60)
4.2.3.4
Nachweisbare Redaktion (zu 3.2.3.7) (S. 60)
4.3 Historische Überlegungen (S. 61)
4.3.1 "Die Fragwürdigkeit
mdl. synoptischer Tradition überhaupt" (zu 3.3.2) (S. 61)
4.3.2 Zweifel an der Festigkeit
der mündlichen Tradition (zu 3.3.3) (S. 62)
5. BEURTEILUNG (S. 64)
5.1 Externe Evidenz (S. 64)
5.1.1 Lukasprolog (S.
64)
5.1.2 Aussagen der Alten Kirche
(S. 65)
5.2 Interne Evidenz (S. 66)
5.2.1 Stoffauswahl (S.
66)
5.2.1.1
Anteil an gemeinsamen Perikopen (S. 66)
5.2.1.2
Verhältnis von Mk und Q (S. 66)
5.2.2 Stoffanordnung
(S. 67)
5.2.2.1
Übereinstimmende Reihenfolge (S. 67)
5.2.2.2
Die Platzierung des Q-Stoffes (S. 68)
5.2.3 Wortlaut (S. 69)
5.2.3.1
Die Höhe der Wortlautübereinstimmungen (S. 69)
5.2.3.2
Die Unterschiedlichkeit der Wortlautübereinstimmungen (S. 69)
5.2.3.3
Gleiche Parenthesen (S. 70)
5.2.3.4
Die Andersartigkeit des Johannesevangeliums (S. 71)
5.2.3.5
Gemeinsamer Wortschatz (S. 71)
5.2.3.6
Minor Agreements (S. 72)
5.2.3.7
Unerklärbare oder nachweisbare Redaktion? (S. 73)
5.3 Historische Überlegungen (S. 74)
5.3.1 Existenz einer mündlichen
griechischen Tradition (S. 74)
5.3.2 Die Festigkeit der mündlichen
griechischen Tradition (S. 74)
5.4 Zusammenfassung (S. 76)
5.5 Ausblick (S. 76)
6. FAZIT (S. 79)
7. BIBLIOGRAFIE (S. 81)
In heutigen NT-Einleitungen gehört es zum guten
Ton, vor einer Darstellung und Begründung der Zweiquellentheorie auch
kurz andere Modelle zur Entstehung der synoptischen Evangelien zu skizzieren,
die im Lauf der Geschichte vertreten wurden: die Traditionshypothese, die
Urevangeliumshypothese, die Fragmenten- bzw. Diegesenhypothese sowie verschiedene
Benutzungshypothesen.1 Nach einer kurzen Widerlegung dieser
Entwürfe wird dann die Zweiquellentheorie mit ihren klassischen Argumenten
dem Leser nahegebracht.
Die Traditionshypothese (TH)2 ist eins
dieser Modelle, die häufig im Vorbeigehen erwähnt werden. Ihre
Grundannahme besteht darin, dass die Übereinstimmungen und Unterschiede
der drei synoptischen Evangelien auf eine gemeinsame Benutzung der mündlichen
Tradition zurückgeführt werden können, weniger auf literarische
Abhängigkeit untereinander. Trotz der dominierenden Zweiquellentheorie
sind in den letzten 20 Jahren hin und wieder einzelne Veröffentlichungen
erschienen, die für eine TH argumentieren. Allerdings ist zu beobachten,
dass sie in der Regel kaum Aufmerksamkeit finden.3
Andererseits mehren sich die Schwierigkeiten mit
der klassischen Zweiquellentheorie. Vieles wird unsicherer, die Zweiquellentheorie
muss mit immer neuen Annahmen gestützt werden (Dmk, QMt/QLk, Lk benutzte
einen defektiven Dmk, Mk kannte Q), und die Zahl der alternativen Vorschläge
zur Lösung der synoptischen Frage geht in die Höhe.4
So könnte es an der Zeit sein, auch die TH wieder ernsthafter in Erwägung
zu ziehen und ihre Argumente und Erklärungsfähigkeit neu zu überprüfen.
Aus diesem Grund beschäftigt sich diese Arbeit nun mit der "Traditionshypothese
als Alternative zur Zweiquellentheorie".
1 Z. B. Udo Schnelle, Einleitung
in das Neue Testament, 3., neubearb. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht, 1999, S. 178-180; Ingo Broer, Einleitung in das Neue
Testament, Bd. 1: Die synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte
und die johanneische Literatur, Die neue Echter Bibel, Ergänzungsband
2/I zum NT, Würzburg: Echter, 1998, S. 42-45; Werner Georg Kümmel,
Einleitung
in das Neue Testament, 21., erg. Aufl. Heidelberg: Quelle & Meyer,
1983, S. 19-22; Philipp Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur:
Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen
Väter, Berlin: de Gruyter, 1975, S. 263-268.
2 Für die Traditionshypothese
wird in dieser Arbeit fortan das Kürzel „TH" verwendet. Weitere Abkürzungen:
Mt, Mk, Lk: die drei Evangelisten; mt, mk, lk: matthäisch, markinisch,
lukanisch; MtEv usw.: Matthäusevangelium; Q: Logienquelle; Dmk: Deuteromarkus.
3 Schnelle, Einleitung,
S. 193f. nennt immerhin Reicke (s.u. 2.2.3).
4 Vgl. z.B. neuerdings
Franz Graf-Stuhlhofer, "Die Bruchstellen der gemeinsamen Perikopen-Reihenfolge
als Indiz für vier gemeinsame Quellen der Synoptiker", European
Journal of Theology 9 (2000), S. 117-129; Philippe Rolland, "A New
Look at the Synoptic Question", European Journal of Theology 8 (1999),
S. 133-144; B. E. Wilson, "The Two Notebook Hypothesis: An Explanation
of Seven Synoptic Patterns", Expository Times 108 (1997), S. 265-268.
Wir haben bis jetzt immer von "der" TH geredet. Wer
sich etwas auskennt, weiß, dass jedes Modell der TH oft ein klein
wenig anders ist. Aber es erscheint in der Regel nicht sinnvoll, jeder
Variante einen eigenen Namen zu geben. Man muss also sinnvolle Kategorien
haben, denen man eine Klasse von einzelnen Modellen zuordnen kann.
Modelle sind eine Menge von Einzelannahmen (Elementen),
die aufeinander bezogen sind. Bei historischen Entstehungsmodellen wie
der TH und der Zweiquellentheorie handelt es sich auch um historische Einzelannahmen,
z.B. dass Mt ein Exemplar des MkEv vor sich liegen hatte und es für
sein Evangelium bearbeitete. Die TH kann nun als eine Klasse von Einzelmodellen
angesehen werden, die bestimmte Elemente gemeinsam haben. Darum erweist
es sich als nützlich, bei einem Modell konstitutive und variable Elemente
zu unterscheiden. Die konstitutiven Elemente eines Modells haben dabei
auch gleichzeitig definitorische Funktion, damit etwas als "Traditionshypothese"
usw. bezeichnet werden kann. Um die Traditionshypothese und die Zweiquellentheorie
als Beispiel zu nehmen:
Konstitutive Elemente für eine Traditionshypothese sind: (mein
Definitionsvorschlag)
• Existenz einer mündlichen Tradition
• die Evangelisten benutzten hauptsächlich5
die mündliche Tradition beim Schreiben ihres Evangeliums
Variable Elemente der Traditionshypothese sind: (ausgewählte Vertreter
in Klammern)
• Existenz einer geformten mündlichen griechischen
Tradition
• diese geformte mündliche Tradition hat eine
bestimmte Reihenfolge (Reicke)
• Existenz einer geformten mündlichen didaktischen
Tradition ohne bestimmte Reihenfolge (Q-Stoff) (Reicke, Scott)
• die Jünger lernten Jesusworte auswendig
• Existenz einiger Notizen über Leben und Worte
Jesu
• Verwendung einiger Notizen durch die Evangelisten
(Hörster, Dearing u.a.)
• Benutzung eines Evangeliums durch andere Evangelisten
für die allgemeine Struktur (Wenham)
• Existenz eines aramäischen Urmatthäus
(Reicke, Linnemann u.a.)
Außerdem sind auch noch weitere variable Elemente denkbar.
5 Diese Ergänzung ist wichtig, da es zahlreiche Mischformen geben kann, z. B. mit der Benutzung von Notizen, mit der Verwendung eines anderen Evangeliums oder mit der Benutzung eines unbekannten Urevangeliums.
Zum Vergleich hier die konstitutiven und variablen
Elemente der Zweiquellentheorie:
Konstitutive Elemente sind:
• Das Markusevangelium wurde zuerst geschrieben
• Mt hat das Markusevangelium benutzt
• Lk hat das Markusevangelium benutzt
• Mt hat eine Quelle Q benutzt
• Lk hat eine Quelle Q benutzt
• Mt und Lk haben jeweils eigenes Sondergut benutzt
An variablen Elementen sind festzustellen:
• die Quelle Q kann mündlich oder schriftlich
sein
• das Sondergut des Mt und das Sondergut des Lk
kann mündlich oder schriftlich sein
• Existenz eines Deuteromarkus (Dmk), den Mt und
Lk benutzten
• Lk benutzte einen defektiven Dmk
• Mt und Lk verwendeten unterschiedliche Q-Rezensionen
• Mk kannte Q
Solche variablen Elemente können nahezu beliebig
miteinander kombiniert werden, sodass man insgesamt eine Unmenge von Varianten
eines Modells erhält. Dabei erscheint es zweckmäßig, weiterhin
von der Zweiquellentheorie zu reden, weil die definierenden Grundannahmen
beibehalten werden,6 anstatt jede Variante einzeln zu benennen
und so einer verwirrenden Begriffsinflation Vorschub zu leisten. Man könnte
höchstens einmal in einer Tabelle die verschiedenen denkbaren Varianten
der Zweiquellentheorie mit ihren jeweiligen variablen Elementen aufführen,
sodass eine bestimmte Version genau mit "Zweiquellentheorie, Variante 24"
bezeichnet werden kann (z.B. für schriftliche Quelle Q, mündliches
Sondergut, Existenz eines Dmk, Benutzung eines fehlerhaften Dmk durch Lk).
Für die Skizzen in Teil 2.2 gilt nebenstehende
Legende:
6 Dieses terminologische Problem ergibt sich bei Albert Fuchs, „Durchbruch in der Synoptischen Frage: Bemerkungen zu einer ,neuen‘ These und ihren Konsequenzen", Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt 8 (1983), S. 5-17, einem engagierten Verfechter der Dmk-Hypothese, der beim Einbezug des Dmk den Begriff der „Zweiquellentheorie" fallen lassen möchte und lieber von einer „Dreistadien- oder Dreistufentheorie" spricht (S. 17). Wenn Fuchs also gegen die „Zweiquellentheorie" wettert, dann meint er einfach ihre klassische Ausprägung. Für andere jedoch umschließt die Zweiquellentheorie auch die Dmk-Hypothese (Schnelle, Einleitung, S. 187).
Diese Arbeit verfolgt drei Ziele:
(1) Es soll eine kleine neuere Forschungsgeschichte
zur TH geboten werden, die einen Überblick über die TH in neuester
Zeit ermöglicht.
(2) Weil anzunehmen ist, dass einzelne Publikationen
zur TH immer nur ein Teil der Argumente erfasst haben, werden außerdem
die Argumente der TH strukturiert zusammengetragen und anschließend
auch die Gegenargumente genannt, die die neuere Literatur gegen die Traditionshypothese
einwendet.
(3) Schließlich muss gefragt werden, inwieweit
die TH wirklich gute Argumente vorbringen kann, ob man sich in neuester
Zeit schon zu Genüge mit ihr auseinandergesetzt hat oder ob sie einfach
aus Bequemlichkeit ignoriert wird.
Anhand des Untertitels "... Ihre neueren Vertreter,
ihre Argumente, ihre Beurteilung" soll kurz der Aufbau dieser Arbeit erläutert
werden.
"Ihre neueren Vertreter, ...": In Kapitel 2 werden
nach einem kleinen Überblick über die Geschichte der TH die neueren
Vertreter der TH kurz vorgestellt. Vier von ihnen, die besonders wichtig
scheinen, werden dann herausgegriffen und ihre Publikation(en) eingehender
behandelt (vgl. Ziel 1).
"... ihre Argumente, ...": Für Kapitel 3 wurden
die Argumente der TH systematisch gesammelt und strukturiert (vgl. Ziel
2a). So kann einfach beobachtet werden, an welcher Stelle ihre Begründung
stark oder schwach ist. Wo es passend erschien, wurden ihre Argumente durch
Hinweise auf weitere Veröffentlichungen ergänzt, deren Autoren
nicht unbedingt direkt der TH angehören mussten.
"... ihre Beurteilung": Die Beurteilung der TH durch
ihre Kritiker in Einleitungen, Literaturberichten und Rezensionen folgt
in Kapitel 4 (vgl. Ziel 2b). Meine eigene Beurteilung der Argumente beider
Seiten, der Forschungslage allgemein und weiterführende Gedanken sind
abschließend in Kapitel 5 zu finden (vgl. Ziel 3).
[Top]
2. DIE NEUEREN VERTRETER DER TRADITIONSHYPOTHESE
In diesem Kapitel soll zunächst zusammengetragen werden, wer überhaupt in letzter Zeit die Traditionshypothese vertreten hat. Anschließend werden vier Personen herausgegriffen, die sehr ausführlich für sie argumentiert haben, wobei ihre genaue Position und Argumentation dargestellt werden soll. Um die "neueren" Vertreter abzugrenzen, wird der Schnitt einfach bei 1970 angesetzt, weil 30 Jahre ein übersichtlicher Zeitraum sind und in etwa der Lebensdauer einer Forschergeneration entsprechen.
2.1 Vertreter der Traditionshypothese bis 1970
Zur Einführung sollen kurz einige Einblicke
in die Geschichte der TH gegeben werden. Es wird allgemein angenommen,
dass die TH zum ersten Mal 1796 von Herder vertreten wurde.7
Baarlink hat jedoch neuerdings darauf hingewiesen, dass man Herder nicht
ohne weiteres für die TH in Anspruch nehmen könne, da dieser
annimmt, dass das mündliche Evangelium noch vor dem Tod des Jakobus
durch Matthäus auf aramäisch schriftlich fixiert worden ist und
als solches die Grundlage für die Verkündigung bildete.8
Im Gegensatz zu Schmithals9 deutet Baarlink Herders Annahme
eines schriftlichen Urevangeliums dabei nicht als spätere Hinzufügung
bei der Herausgabe seiner Schriften.10 Nach Herder ist außerdem
H. E. G. Paulus als Vertreter der TH zu nennen.11
Richtig entwickelt wurde die klassische TH erst
durch J. C. L. Gieseler, der die drei Evangelien allein auf eine mündliche
Quelle zurückführte. Eine feste mündliche Tradition habe
sich nach Gieseler "unter den Aposteln bei der öftern Wiederholung
derselben Erzäh-
7 Vgl. Schnelle, Einleitung,
S. 179f.; Broer, Einleitung, S. 43; Kümmel, Einleitung,
S. 20f. Schmithals weist jedoch auch auf Eckermann hin, der 1796 und 1806
Traditionshypothese mit Fragmenten-, Urevangeliums- und Benutzungshypothese
kombiniert haben soll (Walter Schmithals, Einleitung in die drei ersten
Evangelien, Berlin: de Gruyter, 1985, S. 78).
8 Heinrich Baarlink, "Herders
These eines schriftlichen Urevangeliums: Revision einer gängigen Darstellung",
Zeitschrift
für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren
Kirche 91 (2000), S. 274-278, hier S. 278. Ähnlich schon Armin
D. Baum, "Rez.: Gerhard Hörster, Einleitung und Bibelkunde zum
Neuen Testament, Handbibliothek zur Wuppertaler Studienbibel, Wuppertal:
Brockhaus, 1993", Jahrbuch für evangelikale Theologie 8 (1994),
S. 165-167, hier S. 166.
9 Schmithals, Einleitung,
S. 80. Vgl. Schmithals' Artikel "Evangelien", Theologische Realenzyklopädie,
Bd. 10, Berlin: de Gruyter, 1982, S. 570-626, hier S. 580f.
10 Baarlink, "Herders These",
S. 276, 278.
11 Vgl. Armin D. Baum,
"Die älteste Teilantwort auf die synoptische Frage (Lk 1,1-4)", Jahrbuch
für evangelikale Theologie 8 (1994), S. 9-32, hier S. 14-16.
lungen mehr wie von selbst"12 herausgeformt. Wichtiges, häufig
Vorgetragenes und auffällige Formulierungen wiesen dabei die größten
Übereinstimmungen auf, weil sich dies am besten einprägte. Weil
das aramäische Evangelium schon in Jerusalem regelmäßig
ins Griechische übersetzt werden musste (Apg 6,1), bildete sich auch
eine feste mündliche griechische Tradition. Gieselers Entwurf verbreitete
sich schnell, und die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts wurden so zur Blütezeit
der TH: 1838 konnte Weisse sagen, dass "die überwiegende Mehrzahl
der in der Literatur unserer Zeit mitsprechenden oder tonangebenden Theologen"
die TH vertrete.13 Doch die allgemeine Abwehr der Kritik von
Strauß, der sein "Leben Jesu" (1835/36) auf der Grundlage der TH
verfasste, beschleunigte dann die Abwendung von der TH und die Hinwendung
zu Benutzungshypothesen.14 Der "überzeugendste Einwand",
mit dem Weisse Strauß und die TH widerlegte, war, dass es "diese
[schöpferische] mündliche Gemeinsage ... nachweislich überhaupt
nicht gegeben" habe.15
Der TH angeschlossen haben sich u.a. (manchmal mit
Modifikationen) E. Sartorius (1820), W. M. L. de Wette (1826), H. A. Schott
(1830), C. A. Credner (1836), A. Tholuck (1837), A. Ebrard (1841/42), H.
E. F. Guericke (1843), L. F. O. Baumgarten-Crusius (1844), H. W. J. Thiersch
(1845, 1852), A. Durand (1855), B. F. Westcott (1860)16, Hase
(1876), F. W. Farrar (1880), P. Schaff (1882), E. Le Camus (1883), G. Wetzel
(1883), A. Wright (1890), G. L. Hahn (1892), F. L. Godet17 (1897);
im 20. Jahrhundert dann E. Jacquier (1905), G. Heinrici (1908), P. Fiebig
(1914), T. Soiron (1916), E. Ridaux (1934), P. Gaechter (1938), J. W. Doeve
(1957), C. F. D. Moule (1962) und S. Porúbcan (1964/65).18
An katholischen Exegeten sind aus dem 19. und 20. Jahrhundert zusätzlich
zu nennen: Haneberg, Friedlieb, Meignan, Fillion, Fouard, Felten, P. Schegg,
A. Bisping, F. Kaulen, R. Cornely, J. Knabenbauer, E. Levesque, C. Lattey,
M.
12 Zitat von Gieseler bei
Schmithals, Einleitung, S. 83.
13 Dieses Zitat ebd., S.
84.
14 So Schmithals, "Evangelien",
S. 583f.; ders., Einleitung, S. 126-135, besonders S. 133. Bo Reicke,
"From Strauss to Holtzmann and Meijboom: Synoptic Theories Advanced During
the Consolidation of Germany, 1830-1870", Novum Testamentum 29 (1987),
S. 1-21, hier S. 10, 12 sieht allerdings bei Strauß eher die Griesbachhypothese
vertreten.
15 Schmithals, Einleitung,
S. 133. Interessanterweise wird gerade das, womit man die Traditionshypothese
abschmetterte, von der Formgeschichte wieder vorausgesetzt. Man muss also
entweder die Formgeschichte in Frage stellen (was Schmithals tut) oder
dieses Hauptargument des 19. Jahrhunderts gegen die Traditionshypothese
fallen lassen (was heute wohl mehrheitlich gemacht wird).
16 Brooke Foss Westcott,
Introduction
to the Study of the Gospels with Historical and Explanatory Notes,
1860, Boston: Gould & Lincoln, 1866, besonders S. 174-216.
17 Die Position aus seiner
Einleitung ist auch in Frédéric Godets Kommentar zu finden:
Das
Evangelium des Lukas, 2. Aufl. 1890, ND Gießen: Brunnen, 1986,
hier S. 33-38.
18 Die meisten sind bei
Schmithals, Einleitung, S. 84f. aufgeführt, vgl. S. 86-89.
Ansonsten bieten verschiedene Einleitungswerke (wenn überhaupt) recht
unterschiedliche Auflistungen. Nicht bei Schmithals zu finden sind folgende
Namen: Schulz und Durand, dafür bei Eduard Reuss, Die Geschichte
der Heiligen Schriften Neuen Testaments, 6., verm. u. verbess. Aufl.
Braunschweig: Schwetschke, 1887, S. 173; Hase bei Godet, Lukas,
S. 33; Westcott und Wright bei Donald Guthrie, New Testament Introduction,
4. Aufl. Downers Grove: InterVarsity, 1990, S. 142f.; Ridaux und Porúbcan
nur bei Alfred Wikenhauser / Josef Schmid, Einleitung in das Neue Testament,
6., völlig neu bearb. Aufl. Freiburg: Herder, 1973, S. 277.
Jousse, L. Murillo und L. G. da Fonseca.19 Die katholische Seite hat übrigens nur zögerlich die Zweiquellentheorie angenommen und noch relativ lange Urevangeliums- oder Traditionshypothesen vertreten.
[Top]
2.2 Vertreter der Traditionshypothese seit 1970
2.2.1 Übersicht über neuere Vertreter
Die TH ist heute nicht gerade weit verbreitet, und
man muss schon suchen, bis man jemanden findet, der eine TH vertritt. An
dieser Stelle sollen deshalb erst einmal möglichst viele Befürworter
der TH zusammengetragen und in chronologischer Reihenfolge ihre jeweiligen
Varianten der TH kurz vorgestellt werden, um eine ungefähre Einschätzung
der Lage zu ermöglichen. Einige von denen, die ihre Position breiter
begründet haben, werden anschließend (2.2.2-2.2.5) ausführlicher
wiedergegeben.
a) Rist (1978): John Rist, ein kanadischer Altphilologe,
argumentiert in den Monograph Series der SNTS für die literarische
Unabhängigkeit von Mt und Mk, die stattdessen jeweils auf die mündliche
Tradition zurückgehen sollen.20 Sein Hauptargument besteht
darin, dass die Unterschiede zwischen Mt und Mk nicht durch Redaktion erklärbar
sind, was er im Mittelteil seines Buches durch Einzelanalysen begründet.
Für Lk nimmt er jedoch eine literarische Abhängigkeit von Mt
und Mk an. Kritiker haben bemängelt, dass er die redaktionsgeschichtlichen
Arbeiten nicht ausreichend zur Kenntnis genommen hat.21 Weil
es aber ein Hauptargument der TH ist, dass sich viele Unterschiede nicht
als Redaktion deuten lassen, soll Rist gleich näher vorgestellt werden
(2.2.2).
b) Melick (1979): Nach G. F. Melick, John Mark
and the Origin of the Gospels: A Foundation Document Hypothesis, 1979
soll die urchristliche Predigt keine Überlieferungen des Lebens Jesu
enthalten haben; allerdings wurden auf der Grundlage von späteren
Erzählungen des Markus, der bei einigen Ereignissen dabei gewesen
war, unabhängig voneinander die synoptischen Evangelien verfasst,
wobei eins der Evangelien den Namen des Mk bekam.22
19 Diese Namen werden erwähnt
bei Francis E. Gigot, "Synoptics", The Catholic Encyclopedia, 1913,
www.newadvent.org/cathen/14389b.htm
(9.4.01) und Wikenhauser / Schmid, Einleitung, S. 277.
20 John M. Rist, On
the Independence of Matthew and Mark, Society for New Testament Studies:
Monograph Series 32, Cambridge: UP, 1978.
21 Carl R. Kazmierski,
"Rez.: John M. Rist, On the Independence of Matthew and Mark, SNTSMS
32, New York: Cambridge UP, 1978", Catholic Biblical Quarterly 41
(1979), S. 494f.; Thomas R. W. Longstaff, "Rez.: John M. Rist, On the
Independence of Matthew and Mark, SNTSMS 32, New York: Cambridge UP,
1978", Journal of Biblical Literature 100 (1981), S. 127-130, hier
S. 130.
22 Schmithals, Einleitung,
S. 124. Melicks Buch selbst lag mir nicht vor.
c) Dearing (1979): Vinton A. Dearing23
vertritt eine weitgehende literarische Unabhängigkeit der Evangelien.
Übereinstimmungen in Narrativtexten sind inhaltlich bedingt; deren
Kernsätze, die oft die meisten Übereinstimmungen zeigen, wusste
man auswendig (so wie man die Pointe eines Witzes genau im Kopf haben muss).
Hohe Wortlautübereinstimmung in einigen Diskurstexten (nur Mt 3,7-10;
16,24-28; 19,13f.; 20,25-28; z.T. Mt 24,4-36 jeweils mit Parallelen) beruhen
jedoch auf der gemeinsamen Benutzung schriftlicher Logien. Dearing nimmt
insgesamt kaum Bezug auf Sekundärliteratur.
d) Dyer (1981): In seinem Artikel hinterfragt Charles
H. Dyer24 die „underlying presuppositions" der Benutzungshypothesen.
Die Argumente für die Markuspriorität könnten auch anders
erklärt werden; für Q, M und L gebe es keine historischen Anhaltspunkte;
bei einer Redaktion müssten die Evangelisten literarische Verrenkungen
gemacht haben; außerdem sei die Übereinstimmung in der wörtlichen
Rede am größten (Dyer erklärt dies theologisch mit Joh
14,26). Die Jünger haben nach Dyer die Worte Jesu genau auswendig
gelernt, und Variationen kommen daher, dass Jesus seine Botschaft oft mit
ähnlichen Worten (auch an verschiedenen Orten, vgl. Klage über
Jerusalem) wiederholt habe. Die Übereinstimmungen und Unterschiede
in Narrativtexten gehen nach Dyer direkt auf die Ereignisse zurück.
e) Mauerhofer (1983, 1995): Die zweibändige
NT-Einleitung von Erich Mauerhofer25 enthält einen Lösungsvorschlag
zur synoptischen Frage26, den er bereits 1983 veröffentlicht
hatte.27 Schon zur Zeit der Wirksamkeit Jesu hätten sich
die Jünger die Worte Jesu eingeprägt und sich auch Notizen von
Reden und Ereignissen gemacht. Bei der Verkündigung der Apostel habe
sich dann die synoptische Tradition herausgebildet. Ca. 40/45 n. Chr. sei
das aram. MtEv abgefasst worden, das Lk und Mk beim Schreiben ihrer Evangelien
bekannt war (Lk: ca. 60 n. Chr., Mk: ca. 64-67 n. Chr.). Mk habe außerdem
möglicherweise das LkEv gekannt. Hauptsächlich jedoch würde
das LkEv auf Befragung der Augenzeugen
23 Vinton A. Dearing, "The
Synoptic Problem: Prolegomena to a New Solution", The Critical Study
of Sacred Texts, Hg. Wendy Doniger O'Flaherty, Berkeley Religious Studies
Series 2, Berkeley (CA): Graduate Theological Union, 1979, S. 121-137.
24 Charles H. Dyer, "Do
the Synoptics Depend on Each Other?", Bibliotheca Sacra 138 (1981),
S. 230-245.
25 Erich Mauerhofer, Einleitung
in die Schriften des Neuen Testaments, 2 Bde., 1995, 2. Aufl. Neuhausen:
Hänssler, 1997/99.
26 Ebd., Bd. 1, S. 204-210.
27 Erich Mauerhofer, "Die
synoptische Frage", Fundamentum 2/1982, S. 91-98; 3/1982, S. 41-46;
4/1982, S. 57-63; 1/1983, S. 51-62 (der Lösungsvorschlag selbst findet
sich im 4. Teil, S. 61f.).
und das MkEv auf der petrinischen Predigt beruhen.28 Das
MtEv sei "eventuell im Zusammenhang mit Lukas" ins Griechische übersetzt
worden, jedenfalls vor 100 n. Chr.29
f) Reicke (1984, 1986): Reicke kann als ein Hauptvertreter
der TH gelten. Er hat seine Ansicht in einem Artikel in der Reihe Aufstieg
und Niedergang der römischen Welt30 und zwei Jahre
später ausführlicher in einem Buch31 publiziert. Am
Evangelientext beobachtet er die gemeinsame Reihenfolge in der Tripeltradition
und die dagegen völlig verschiedene Reihenfolge im Q-Stoff, und im
Buch untersucht er zusätzlich die einzelnen Erzählblöcke
mit unterschiedlichen Anteilen an kontextparallelen Perikopen. In Übereinstimmung
mit diesen Beobachtungen unternimmt Reicke eine historische Rekonstruktion
der Evangelien-entstehung: Die Tripeltradition entspreche der geformten
mündlichen Tradition der Urgemeinde, wo auch die Reihenfolge des Stoffes
mit festgelegt war; zusätzlich wurden von Mt und Lk noch verschiedene
Logien aufgenommen, die aufgrund ihrer didaktischen Natur nicht im Leben
Jesu verortet waren. Seine relativ ausgefeilte Version der TH wird unten
eingehender betrachtet (2.2.3).
g) Scott (1986): Von einer detaillierten Analyse
des Lukasprologs ausgehend entwickelt Scott32 seine "two-tradition
theory". Die mündliche Überlieferung bestand nach Scott aus einer
gemeinsamen Erzähltradition, die die Grundlage für alle drei
Evangelien bildete, und verschiedenen unabhängigen Traditionen, die
Mt und Lk zusätzlich verwendeten.33 Dieselbe Zweiteilung
findet sich auch bei Reicke.
h) van den Brink (1990): G. van den Brink34
verweist in seinem Artikel zur Begründung der Traditionshypothese
in vier Abschnitten auf die damalige Gedächtniskultur und die mündliche
Belehrung durch Auswendiglernen, auf die mögliche Existenz von schriftlichen
28 Das ist auch der Grund,
warum man Mauerhofer am besten zur TH rechnen sollte. Er selbst kritisiert
die "Oral-Traditionshypothese" (Einleitung, Bd. 1, S. 180) und zeigt
deutliche Sympathie mit der Griesbachhypothese (S. 180-183, 186), die er
aber in seinem eigenen Modell zugunsten der jeweiligen Quellen der Evangelisten
dann wiederum stark abschwächte.
29 Mauerhofer, Einleitung,
Bd. 1, S. 208f.
30 Bo Reicke, "Die Entstehungsverhältnisse
der synoptischen Evangelien", Aufstieg und Niedergang der römischen
Welt, Reihe II: Principat, Bd. 25.2, Berlin: de Gruyter, 1984,
S. 1758-1791.
31 Bo Reicke, The Roots
of the Synoptic Gospels, Philadelphia: Fortress, 1986.
32 James W. Scott, Luke's
Preface and the Synoptic Problem, Ph.D. Thesis, St. Andrews, 1986.
Vgl. Wenhams kritische Würdigung: John Wenham, Redating Matthew,
Mark and Luke: A Fresh Assault on the Synoptic Problem, London: Hodder
& Stoughton, 1991, S. 7f.
33 Scott, Luke's Preface,
S. 314.
34 G. van den Brink, "Redacteur
of evangelist? De literaire onafhankelijkheid van de synoptische evangeliën",
Verkenningen
in de evangeliën, Hg. G. van den Brink u.a., Theologische verkenningen:
Bijbel en exegese 5, Kampen: Kok, 1990, S. 77-85. Sein apologetisches Anliegen
nennt er gleich zu Anfang: "Drie onafhankelijke getuigen van hetzelfde
gebeuren moeten toch ieder overtuigen van de betrouwbaarheid van deze overleveringen!"
(S. 77).
Notizen und die Parallele zu Wortlautübereinstimmungen in den ursprünglich
mündlich überlieferten Targumim.
i) Wenham (1991): Wenham argumentiert in seinem
Buch Redating Matthew, Mark & Luke für eine "(o)ral Theory
with some measure of successive dependence".35 Die Übereinstimmungen
in der Perikopenreihenfolge und an einigen Stellen im Wortlaut erklärt
er dadurch, dass spätere Evangelisten die vorher geschriebenen Evangelien
(Mk: Mt; Lk: Mt und Mk) zu Rate gezogen haben, aber ansonsten ihre eigenen
Traditionen verarbeiteten. Weil Wenham so ausführlich auf die altkirchlichen
Zeugnisse eingeht (S. 116-197), weil er eine Reihe von Beobachtungen an
den Evangelientexten macht (S. 11-115) und eine interessante Verknüpfung
von Abhängigkeit und Unabhängigkeit der Evangelien vertritt,
soll er ausführlicher behandelt werden (2.2.4).
j) Linnemann (1992, 1998): In dem Buch mit dem provokativen
Titel Gibt es ein synoptisches Problem?36 will Linnemann
anhand von statistischen Analysen die literarische Unabhängigkeit
der Evangelien nachweisen. Sie überprüft die typischen Begründungen
für eine literarische Abhängigkeit (Akoluthie, die Wortlautübereinstimmungen
und gemeinsamer Wortschatz) akribisch an den Evangelientexten, deutet ihre
Daten zugunsten einer Unabhängigkeit der Synoptiker und formuliert
zum Schluss eine Form der Traditionshypothese. Einige weitere Analysen
hat sie 1998 nachgetragen.37 Da Linnemann wie niemand sonst
die TH durch empirische Untersuchungen begründet, soll auch sie näher
betrachtet werden (2.2.5).
Bei folgenden Personen ist eine Form
der Traditionshypothese (möglicherweise) anzunehmen. Sie stellen sie
aber nicht ausführlicher dar.
k) Robinson (1976): John A. T. Robinson38
wurde nachgesagt, Anhänger der TH zu sein.39 Robinson nimmt
offenbar an, dass sich die Evangelien gleichzeitig mit verschiedenen Wechselbeziehungen
untereinander entwickelt haben und dabei auf schriflicher und mündlicher
Überlieferung beruhen.40 Weiteres lässt
35 Wenham, Redating,
hier S. xxviii.
36 Eta Linnemann, Gibt
es ein synoptisches Problem?, 1992, 3., überarb. Aufl. Nürnberg:
VTR, 1998.
37 Eta Linnemann, Bibelkritik
auf dem Prüfstand: Wie wissenschaftlich ist die "wissenschaftliche
Theologie"?, Nürnberg: VTR, 1998, hier S. 13-52.
38 John A. T. Robinson,
Wann
entstand das Neue Testament?, Paderborn: Bonifatius, 1986 (engl. 1976).
39 Jürgen Roloff,
"Neutestamentliche Einleitungswissenschaft: Tendenzen und Entwicklungen",
Theologische
Rundschau 55 (1990), S. 385-423, zu Robinson S. 417-419: An die Stelle
der Zweiquellentheorie "setzt er eine etwas unklare Fassung der alten Traditionshypothese
..." (S. 418).
40 Robinson, Wann entstand
das NT?, S. 103. Er schreibt dort beispielsweise: "So wie wir die Evangelien
haben, sind sie eher als parallel, in keinerlei Weise voneinander isoliert
zu betrachten, vielmehr als Entwicklungen eines gemeinsamen Materials,
die für verschiedene Gegenden der christlichen Mission bestimmend
sind; wir sollten sie nicht einfach als eine Reihe von Dokumenten ansehen,
die in einer
er letztlich unklar und begründet es auch nicht näher.
l) Feneberg (1980): R. Feneberg41
wird von Schmithals unter den Vertretern der TH aufgezählt.42
Er versteht die Gattung Evangelium als "kleine Einheit" im Sinne der Formgeschichte;
Mk "mußte die Form Evangelium nur als erster literarisch fassen."43
Auch Mt und Lk haben "primär" diese mündliche Tradition verwendet,
aber die Zweiquellentheorie gelte weiterhin, da Mk als "erste literarisch
gefaßte Form einen besonderen Einfluß in der Überlieferungsgeschichte"
gewonnen habe.44
m) Blank (1981): Blanks Dissertation
bei Reicke (s.u.) wendet sich im Schlussteil ganz allgemein einer Kritik
der Zweiquellentheorie zu.45 Bultmann habe sich selbst nicht
konsequent an die Zweiquellentheorie gehalten, weil er manchmal die ursprünglichere
Fassung in Mt und Lk entdeckte.46 Auch Q wurde für Bultmann
zu einem "ständig unter redaktioneller Bearbeitung befindlichen Dokument",
dem er die ursprüngliche Form zuschob, wenn kein Evangelium sie bot.
Daraus ergibt sich bei Blank, dass die Logienquelle "als mündliche
Tradition behandelt werden" muss. Er schließt mit dem Satz: "Diese
Vorstellung einer Schriftlichkeit von Q führte auch zwangsweise zu
den Benutzungshypothesen."47
n) Riesner (1981): Rainer Riesner
wird ebenfalls eine TH nachgesagt.48 Er selbst präzisiert
jedoch, er vertrete "keine reine Traditionshypothese", weil er auch schon
frühe schriftliche Aufzeichnungen annehme.49 In seiner
Dissertation hatte Riesner unter Berufung auf den jüdischen Lehrbetrieb
zeigen wollen, dass die Jünger Worte Jesu auswendig lernten.50
Schon 197751 hatte er Einwände gegen die Zweiquellentheorie
erhoben (unerklärbare Redaktion, Verschiebungen von Erzählungsteilen
und Minor Agreements), aber auch dort nicht eindeutig für eine TH
votiert.
o) Chilton (1989): B. Chilton, Profiles
of a Rabbi: Synoptic Opportunities in Reading About Jesus,
zeitlichen Reihenfolge zu betrachten
sind."
41 Rupert Feneberg, "Formgeschichte
und historischer Jesus", Das Leben Jesu im Evangelium, Hg. Rupert
u. Wolfgang Feneberg, Quaestiones Disputatae 88, Freiburg: Herder, 1980,
S. 19-183.
42 Schmithals, Einleitung,
S. 85.
43 Feneberg, "Formgeschichte",
S. 85.
44 Ebd.
45 Reiner Blank, Analyse
und Kritik der formgeschichtlichen Arbeiten von Martin Dibelius und Rudolf
Bultmann, Theologische Dissertationen 16, Basel: Reinhardt, 1981, besonders
S. 202-207. Er wird von Schmithals, Einleitung, S. 84 als Vertreter
der Traditionshypothese aufgeführt.
46 Andreas Lindemann, "Literaturbericht
zu den Synoptischen Evangelien 1978-1983", Theologische Rundschau
49 (1984), S. 223-276, hier S. 230f. kritisiert allerdings, dass Blank
Bultmann ungenügend darstelle und Bultmann auch hier Q, nicht Mt/Lk
für ursprünglich gehalten habe.
47 Blank, Analyse,
S. 205 und 207.
48 Schmithals, Einleitung,
S. 85 und 272.
49 Rainer Riesner, Jesus
als Lehrer: Eine Untersuchung zum Ursprung der Evangelien-Überlieferung,
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament II/7, 1981, 3. erw.
Aufl. Tübingen: Mohr, 1988, S. 512; vgl. S. 491-498.
50 Vgl. auch Rainer Riesners
Kurzfassung seiner Dissertation "Der Ursprung der Jesus-Überlieferung",
Theologische
Zeitschrift 38 (1982), S. 493-513 und Riesners Artikel "Jüdische
Elementarbildung und Evangelienüberlieferung", Gospel Perspectives:
Studies of History and Tradition in the Four Gospels, Hg. R. T. France
/ David Wenham, Bd. 1, 1980, 2. Aufl. Sheffield: JSOT, 1983, S. 209-223.
51 Rainer Riesner, "Wie
sicher ist die Zwei-Quellen-Theorie?", Theologische Beiträge
8 (1977), S. 49-73. Skeptisch äußerte er sich auch in "Wie steht
es um die synoptische Frage?: Gedanken zur Cambridge Griesbach Conference
1979", Theologische Beiträge 11 (1980), S. 80-83.
Atlanta: Scholars Press, 1989 soll eine Traditionshypothese
vertreten, die er mit rabbinischen Parallelen begründet.52
p) Hörster (1993): Die populäre
Kommentarreihe der Wuppertaler Studienbibel wurde ergänzt durch ein
kleines Bändchen u.a. zur NT-Einleitung des freikirchlichen Autors
Gerhard Hörster.53 Bei seiner Kritik an der Zweiquellentheorie
beruft sich Hörster ganz auf Riesners Artikel von 197754.
Nach einer relativ ausführlichen Darstellung der Position Godets schließt
sich Hörster dann dessen Ansicht an und hält "eine modifizierte
Diegesenhypothese" für wahrscheinlich.55 Baum bemerkt jedoch
in seiner Rezension, dass Godet eher der Traditionshypothese zugezählt
werden muss56 (s.o. 2.2.1) - also auch Hörster?
q) Verkaik (1995): Eta Linnemann beruft
sich in ihrem Buch an mehreren Stellen57 auf die unveröffentlichte
Drs.-Arbeit von André Verkaik, The Tenability of Synoptic Independence,
Amsterdam 199558, in der Verkaik offenbar besonders das Phänomen
der kleineren Überhänge untersuchte. Eine weitere Arbeit von
Verkaik zu den kleineren Überhängen wurde im Internet veröffentlicht.59
Bei diesem Überblick sind drei Dinge deutlich
geworden:
1) Zunächst muss betont werden: Es sind heutzutage
insgesamt nur eine Handvoll Theologen, die für die TH Position beziehen.
Die TH wird in wenigen Büchern entfaltet, in zwei (auch für Laien
gedachten) konservativen Einleitungen kaum mehr als angedeutet und in einigen
verstreuten Artikeln kurz begründet (Dyer, Dearing, van den Brink).
2) Vertreter der TH nehmen kaum Bezug aufeinander.
Stattdessen versucht jeder einen völligen Neuansatz bei seiner Argumentation,
was zu recht vielen unterschiedlichen Begründungsmustern führt.
Es könnte sich als wertvoll erweisen, diesen Reichtum an Argumentationen
zusammenzuführen.
3) Man darf eigentlich nicht undifferenziert von
"der" Traditionshypothese sprechen; und wer dies tut, sollte sich bewusst
sein, dass es heute sehr verschiedene Ausformungen gibt. Wer "die" TH widerlegen
will, muss auch die variablen Elemente zur Kenntnis nehmen, die versuchen,
z.B. die Übereinstimmungen zwischen den Evangelien zu erklären.
52 Wenham, Redating,
S. 252f., Endnote 23.
53 Gerhard Hörster,
Einleitung
und Bibelkunde zum Neuen Testament, Handbibliothek zur Wuppertaler
Studienbibel, Wuppertal: Brockhaus, 1993 (S. 16-24 zum synoptischen Problem).
54 Riesner, "Wie sicher".
55 Hörster, Einleitung,
S. 24.
56 Baum, "Rez.: Hörster",
S. 167.
57 Linnemann, Synoptisches
Problem, S. 9, 68, 78, 87-89, 111.
58 In einem Telefongespräch
hat mich A. Verkaik an die Vrije Universiteit Amsterdam verwiesen, weil
er sein persönliches Exemplar nicht hergeben wollte. Mehrfaches Nachfragen
an der Universität blieb aber erfolglos, weil diese Arbeit anscheinend
nicht im Datenbestand erfasst war.
59 André Verkaik,
Hangovers
over 'Überhänge': A study of the Additional Minor Details of
Mark found in neither Matthew nor Luke, www.inexes.com/nt/synoptic_problem/hangovers0t.html
(5.3.01).
[Top]
2.2.2 John Rist (1978)
1978 schaltete sich John Rist, ein kanadischer Professor
für Altphilologie und Philosophie, in die Diskussion der synoptischen
Frage ein und argumentierte in den Monograph Series der Society for New
Testament Studies für eine literarische Unabhängigkeit von Mt
und Mk. Im ersten und letzten Kapitel des Buches erläutert Rist seine
Ansicht und führt im Hauptteil (Kapitel 2-8) Einzeluntersuchungen
durch, um die Eigenständigkeit der beiden Evangelien zu demonstrieren.
In einem kurzen Anhang wendet er sich gegen Goulders Annahme einer midraschartigen
Vermehrung des Evangelienstoffes durch Mt.
Gleich zu Beginn des ersten Kapitels ("Problems
and assumptions") übt Rist ganz grundsätzliche Kritik an der
Forschung: Die Markuspriorität sei im 19. Jahrhundert aufgrund von
Annahmen akzeptiert worden, die heute falsifiziert seien (Mk sei früher,
weil es weniger Legenden wie Kindheitsgeschichte und Auferstehungsberichte
enthält); trotzdem wolle man sich nun nicht von ihr lösen. Bei
der redaktionsgeschichtlichen Arbeit sei eine "uncritical acceptance of
the axioms and presuppositions of the Markan priorists" (S. 2) zu finden.
Auch Farmer, Vaganay und Butler hätten sich nicht von der "orthodox
view" einer wie auch immer aussehenden literarischen Abhängigkeit
trennen wollen.
Den Benutzungshypothesen von Mt und Lk setzt Rist
dann seine eigene Ansicht entgegen. Für die einzelnen Elemente seiner
Theorie gibt er zwar jeweils einige Argumente, aber für einen Neuansatz
bleibt doch vieles oberflächlich, was auch die Rezensenten Rists bemängeln.60
Das MkEv ist nach Rist auf 60-65 n.Chr. zu datieren, weil Lk das MkEv benutzte61
und das LkEv wegen des plötzlichen Abbrechens der Apg vor 64 n. Chr.
geschrieben wurde (S. 4f.). Außerdem stimme diese Chronologie mit
den altkirchlichen Angaben überein. Eine Datierung des MtEv nach 70
n. Chr. ausschließlich wegen der vaticinia ex eventu sei nicht
haltbar; also gebe es keinen Grund, die Angabe des Irenäus in Zweifel
zu ziehen, dass Mt sein Evangelium schrieb, als Petrus und Paulus die Fundamente
der Kirche in Rom legten (S. 6f.). Wichtig ist für Rist, dass Irenäus
und andere altkirchliche Zeugen (vgl. S. 106f.) von keiner literarischen
Abhängigkeit der Evangelien berichten.
Die Existenz von Q wird mit wenigen Argumenten abgeschmettert (keine
altkirchliche Erwähnung; keine heutigen Spuren einer Logiensammlung
außer dem Thomasevangelium, das eher von den Synoptikern abhängt;
auch Mk hat im Beelzebulstreit Q-Material) (S. 7-9; auf S. 108 äußert
er sich jedoch vorsichtiger). Das gemeinsame Material von Mt und Lk ist
60 Kazmierski, "Rez.: Rist";
Longstaff, "Rez.: Rist".
61 Rist, Independence,
S. 5: "... we have to find Mark to have been written some time before the
mid-sixties, for he is available for use by Luke about that time." Vgl.
S. 4, 10f., 108.
vielmehr durch eine Benutzung des Mt durch Lk zu erklären, obwohl
Lk im Allgemeinen dem MkEv folgte und weitere, mündliche Quellen verwendete
(S. 10f.). Dabei konnte Lk eine mündliche Tradition auch dem MtEv
vorziehen, wenn er sie für ursprünglicher hielt.
Die Priorität des MkEv durch inhaltliche Tendenzen
begründen zu wollen, indem man gewisse Merkmale der Ursprünglichkeit
festlegt und sie bei Mk entdeckt (weniger Wunderberichte usw.), weist Rist
mit Hinweis auf die Dissertation von Sanders62 ab (S. 12). Zum
"argument from order" der Benutzungshypothese meint Rist, dass vieles schon
durch die natürliche Folge der Ereignisse vorgegeben sei. Was es sonst
an Übereinstimmungen in der Reihenfolge der Tripeltradition gibt,
sei nicht schwer im Gedächtnis zu behalten (S. 14-16).
Mit den diversen Analysen im Hauptteil hinterfragt
Rist eine mögliche redaktionelle Bearbeitung des MkEv durch Mt und
des MtEv durch Mk. In seiner ersten Untersuchung wendet sich Rist z.B.
Mt 3,1-9,17 mit den Markus- und Lukasparallelen zu. Dabei kommt er zu dem
Ergebnis, dass es unmöglich sei zu bestimmen, welches Evangelium von
welchem abhängt, und dass bei einer literarischen Abhängigkeit
Matthäus' Bearbeitung von Mk von sehr unterschiedlicher Qualität
gewesen sein müsste (S. 32). Die nächsten Analysen an anderen
Texten (Mk 2,23-6,13par; Sturmstillung, reicher Jüngling, Tochter
des Jairus u.a., bis hin zu Kreuz und Auferstehung) wollen dann diese Ergebnisse
über den gesamten Evangelienstoff verteilt unterstützen: "...even
in the passion narrative ..., we find the same phenomena as we found in
the earlier sections of the Gospels" (S. 87).
Im Schlusskapitel fasst Rist seine Argumente gegen
eine Benutzung des MkEv durch Mt zusammen (S. 92): 1) Manchmal ist Mt,
manchmal Mk ausführlicher. 2) Beim Abschreiben wäre Mt teilweise
sehr nachlässig gewesen (Tod Johannes des Täufers, Tochter des
Jairus, blinder Bartimäus), teilweise aber auch sehr genau. 3) Mt
benutzt in "markinischen" Passagen eine nichtmarkinische Quelle (Bekenntnis
des Petrus; vgl. S. 69). Weil also einige Stellen für eine Mt-Priorität
und andere für eine Mk-Priorität sprechen, bleiben drei alternative
Erklärungen: 1) eine gegenseitige Beeinflussung der beiden Evangelien
(E. P. Sanders), 2) eine gemeinsame schriftliche Quelle (das aramäische
MtEv), 3) keine gegenseitige Abhängigkeit (S. 93).
Das Modell von Sanders wird kurz zurückgewiesen;
auf die zweite Möglichkeit geht Rist genauer ein. Bei einem aramäischen
Mt als gemeinsame Quelle stellt sich zudem die Frage, ob das griechische
MtEv dann wiederum von Mk abhängt. Wenn die Vertreter einer Abhängigkeit
anführen, dass in der Mt-Mk-Tradition oft genaue LXX-Zitate zu finden
seien, dann könnten diese ähnlichen Zitate auch dadurch erklärt
werden, dass Mt einfach
62 E. P. Sanders, The Tendencies of the Synoptic Tradition, Society for New Testament Studies: Monograph Series 9, Cambridge: UP, 1969, besonders S. 275.
Septuagintalismen hat und Mk sich streng an die LXX hält (S. 95f.).
Außerdem sei noch nicht einmal sicher, ob es ein aramäisches
MtEv gegeben hat. Nach Untersuchung der einschlägigen Stellen bei
Papias und Irenäus meint Rist, dass auf jeden Fall ein aramäischer
Text existiert haben müsse, aber ob es das aramäische MtEv war,
könne man nicht wissen (S. 98). Rist stellt heraus, "that an Aramaic
Gospel of Matthew depends on the uncertain evidence of Papias alone." (S.
99) Selbst wenn es ein aramäisches MtEv gegeben hat, dann müsse
es dem griechischen wohl ganz ähnlich sein. Das Postulat eines solchen
MtEv kann nach Rist eine literarische Abhängigkeit von Mt und Mk also
auch nicht stützen.
So bleibt für Rist zur Erklärung allein
die mündliche Tradition übrig. Zwar hält er dabei einige
kleinere schriftliche Quellen für wahrscheinlich, zumal damals auch
Briefe an die Gemeinden verfasst wurden, doch die mündliche Überlieferung
spielte die wichtigste Rolle.63 Denn nach Lk 1,1-4 schrieb Lk
zu einer Zeit, wo noch eine Prüfung der schriftlichen Aufzeichnungen
anhand der mündlichen Tradition möglich war.
Den Jüngern sei es wichtig gewesen, die aramäischen Worte Jesu
so genau wie möglich zu behalten. Für Rist ist es allerdings
fraglich, dass Jesus sie ihnen mit wörtlicher Genauigkeit einprägte
(S. 100; gegen Riesenfeld und Gerhardsson). Jedoch könne beobachtet
werden, dass in den Evangelientexten die Worte Jesu stärker übereinstimmen
als ihr narrativer Rahmen (S. 100f.). In der Urgemeinde wurden die Geschichten
auf Aramäisch und Griechisch dann immer wieder erzählt (vgl.
S. 104), und bald bildete sich auch eine gewisse Reihenfolge heraus. Dadurch
kamen die Übereinstimmungen im Wortlaut und Stoffanordnung zustande
(S. 101). Rist hält es übrigens auch für möglich, dass
verschiedene Gelegenheiten überliefert sind, bei denen Jesus seine
Worte wiederholte (S. 92). Diese historischen Überlegungen weisen
darauf hin, dass "(a)ll in all a situation might have existed in the mid-sixties
such that our three Synoptics could have been written entirely independently
of one another" (S. 104; kursiv im Original). Allerdings nimmt Rist, wie
gesagt, durchaus eine Abhängigkeit des Lk von Mk und Mt an.
Es ist eine gewisse apologetische Tendenz bei Rist
zu spüren. Er argumentiert relativ
63 "Common notes, liturgical fragments, collections of sayings and anecdotes are still possible, and indeed almost certain, but the major part of the tradition would be oral" (Rist, Independence, S. 99).
ausführlich, dass die apostolischen Augenzeugen nicht Geschichten erfunden oder einer Vermehrung des Materials durch andere zugestimmt hätten (S. 102f.). Und ganz zum Schluss betont er, dass "the credibility of at least some of the tradition is strengthened by its being represented to us by two rather than by one identifiable primary document" (S. 108).
[Top]
2.2.3 Bo Reicke (1984, 1986)
(a) Für die renommierte Reihe Aufstieg und
Niedergang der römischen Welt, die nicht nur von Theologen gelesen
wird, war Reicke die Aufgabe zugekommen, über die "Entstehungsverhältnisse
der synoptischen Evangelien" zu schreiben.64 Hier konnte Reicke
eine recht breite Leserschaft mit seiner Ansicht, nämlich der TH,
bekannt machen.
Auf den ersten Seiten stellt er, wie allgemein üblich,
zunächst die vier wichtigsten Theorien zur synoptischen Frage samt
ihren historischen Vertretern vor: die Benutzungshypothese in ihren Varianten
(Augustin, Griesbach, Storr), die Urevangeliumshypothese Lessings, die
Traditionshypothese Herders und Gieselers und die Fragmentenhypothese Schleiermachers.
Die Formgeschichte habe dann seit 1919/21 Elemente der Traditionshypothese
und der Fragmentenhypothese in sich zu integrieren gewusst, sodass ihr
Fundament, die Zweiquellentheorie, unangetastet blieb und die Synoptikerfrage
stagnierte (S. 1766, 1768). Jedenfalls in Deutschland "wurden Schulmeinungen
der Formgeschichte und Zweiquellentheorie einfach übernommen und gegen
das vorliegende Material ausgespielt" (S. 1769).
Empirischer Ausgangspunkt von Reickes Theorie ist
die Verteilung der Kontextparallelen und Alibianalogien in den Evangelien.
Reicke bezieht sich dazu auf einen Artikel von Joseph B. Tyson65,
der folgende Zahlen für die Kontextparallelen ermittelte: Bei Mt und
Mk stehen 84 % (90 bzw. 9166) der gemeinsamen Perikopen im gleichen
Kontext, bei Mk und Lk 76% (73 bzw. 72) der Perikopen, bei Mt und Lk jedoch
treten nur 49% der gemeinsamen Abschnitte im gleichen Textzusammenhang
auf. Von diesen 63 bzw. 62 kontextparallelen Perikopen bei Mt und Lk stehen
auch 57 bzw. 56 im Markusevangelium an entsprechender Stelle. D. h. die
Dreiertradition ist fast immer kontextparallel; es gibt kaum Kontextparallelen
zwischen Mt und Lk, die nicht auch durch Mk gestützt werden, und
64 Reicke, "Entstehungsverhältnisse".
65 Joseph B. Tyson, "Sequential
Parallelism in the Synoptic Gospels", New Testament Studies 22 (1976),
S. 276-308.
66 Die unterschiedlichen
absoluten Zahlen kommen dadurch zustande, dass eine Perikope, die in einem
Evangelium "ganz" ist, in einem anderen Evangelium aufgeteilt sein kann.
diese beziehen sich alle nur auf die Täufertradition (Mt 3,7-10par;
4,2-10par; 11,2-6.7-19par). Reickes eigene Zusammenstellung der Alibianalogien
(gemeinsame Perikopen, die an verschiedener Stelle bei den Evangelisten
vorkommen) ergibt, dass von 75 Mt-Perikopen ohne Kontextparallelen 35 dieser
Abschnitte Alibianalogien bei Lk besitzen (der Rest ist Sondergut bzw.
gemeinsame Mt-Mk-Tradition). Es ist nun zu bedenken, dass diese 35 Alibianalogien
zusammen mit den wenigen Kontextparallelen zwischen Mt und Lk (ohne Mk)
den Q-Stoff bilden. Diese Tatsache, dass es im Q-Material fast keine Kontextparallelen
gibt67, "läßt jede Annahme einer schriftlich oder
mündlich irgendwie fixierten Unterlage der matthäisch-lukanischen
Zweiertradition im Stil der angeblichen Logienquelle oder Spruchquelle
als Trugbild erscheinen" (S. 1773).
Diesem Phänomen, dass die Zweiertraditionen
im Gegensatz zu den Dreiertraditionen nur selten kontextparallel sind,
versucht Reicke dann im nächsten Teil seines Artikels, nämlich
bei der historischen Rekonstruktion der Entstehung der Evangelien (S. 1775-1789),
gerecht zu werden. Grundlegend ist für Reicke die Annahme, dass jeder
Evangelist aus verschiedenen Ortstraditionen schöpfte, die
ihm zugänglich waren (S. 1775, 1777-1780).
Die Erzählungen der weitgehend kontextparallelen
Dreiertradition stammen nach Reicke aus der Überlieferung der Jerusalemer
Gemeinde, auf die Matthäus, Markus und Lukas jeweils zurückgriffen.
Durch das häufige Erzählen wurden dort und in der Missionssituation
"formal geprägte Traditionsstücke" (S. 1776) weitergegeben, wie
formgeschichtliche Untersuchungen zeigen. Nach Reicke kann man aufgrund
hellenistischer Einflüsse annehmen, dass die Tradition in Jerusalem
nicht nur aramäisch, sondern auch schon griechisch formuliert und
weitergegeben worden ist (vgl. Apg 6,1). Diese Jerusalemer Tradition, die
sich ursprünglich auf die Passionsgeschichte beschränkte, war
nach und nach durch die Jünger, die in Galiläa oder Peräa
das Wirken Jesu erlebt hatten, ergänzt worden. So entstand ein einfaches,
dreigeteiltes Bild vom Leben Jesu: sein Wirken in Galiläa, in Peräa
und in Judäa. Die einzelnen Evangelisten nun besaßen Kontakte
zur Jerusalemer Urgemeinde: (1) Die Mutter des Evangelisten Markus
hat in Jerusalem Petrus und andere Glieder der Urgemeinde bei sich zu Gast
gehabt (Apg 12,12). Aus dieser Hausgemeinde hat Markus das Traditionsmaterial
gekannt, das er später aufschrieb. (2) Abgesehen davon, dass das Matthäus-Evangelium
vom Apostel stammen könnte, spricht nach Reicke auf jeden Fall das
67 Dieses "Durcheinander" in der mt-lk Doppeltradition ist gut sichtbar bei Robert Morgenthaler, Statistische Synopse, Zürich: Gotthelf-Verlag, 1971, S. 252. Morgenthalers Kommentar lautet u.a.: "Es bietet sich ein höchst überraschendes Bild. Die zahlreichen Linienüberschneidungen zeigen an, daß entweder Mt oder Lk oder beide zusammen die ursprüngliche Perikopenfolge einer allfälligen Logienquelle weitgehend zerstört haben" (S. 253).
Interesse des Evangelisten an Petrus (Matth. 16,17-19) und an Jesu Unterweisung
der Apostel (5,1-7,27; 10,1-42) für eine Jerusalemer Herkunft des
Erzählmaterials (S. 1782). (3) Lukas hatte Kontakt zu Silas
(Apg 15,22-23.40), zu Philippus (Apg 21,8) und schließlich auch zu
der Jerusalemer Gemeinde selbst (Apg 21,17). Z.Zt. der Gefangenschaft des
Paulus in Cäsarea bot sich dann für Lukas die Gelegenheit, sein
Material im Gespräch mit Philippus, der in Cäsarea wohnte (Apg
21,8), zu vervollständigen. Außerdem hatte Lukas dort Verbindungen
zu Markus (Phlm 24; vgl. Kol 4,10-14; 2Tim 4,11) (S. 1780-1782).
Daneben spielen nach Reicke weitere Ortstraditionen
eine Rolle, mit denen die Evangelisten in Kontakt kamen: Das peräische
Material des lukanischen Reiseberichts (Lk 9,51-18,14) ist weitgehend auf
Philippus zurückzuführen, der die - häufig aus Peräa
stammenden - Hellenisten zu versorgen hatte (Reicke, S. 1784). Markus dagegen
lokalisiert viel Material in Kapernaum wegen seiner Abhängigkeit von
Petrus (S. 1783).
Matthäus und Lukas haben aus einem besonderen
Interesse an Unterweisung heraus stärker didaktische Stoffe aufgegriffen,
die in den "Zweiertraditionen der Kategorie Q und Sondertraditionen" überliefert
sind (S. 1785f.). Logien des Q-Stoffes sind bei Matthäus und Lukas
dabei an sehr unterschiedlicher Stelle eingesetzt worden. Matthäus
verwendet sie eher als Ergänzungen zur Tripeltradition, Lukas hat
sie vielfach in seinen Reisebericht eingebaut (S. 1786). Daraus lässt
sich schließen, dass die Q-Traditionen offenbar ohne historische
Bindung an das Leben Jesu überliefert worden waren, wohl aufgrund
ihres mehrheitlich paränetischen Charakters: "Man zitierte die als
einzelne Einheiten überlieferten Jesusworte wegen ihrer aktuellen
Bedeutung für die Kirche, nicht wegen ihrer historischen Bedeutung
im Leben Jesu" (S. 1780). Außerdem "weist die Beweglichkeit des Materials
auf eine mündliche Überlieferung hin" (S. 1780). Ansonsten wäre
es unverständlich, warum die Evangelisten der Tripeltradition so treu
folgten, aber gleichzeitig den Q-Stoff hin und her schoben.
(b) In dem zwei Jahre nach dem Artikel erschienenen Buch The Roots of the Synoptic Gospels vertieft Reicke seinen Ansatz einer Traditionshypothese. Kapitel 1 beinhaltet (in englischer Übersetzung) denselben historischen Überblick wie der Artikel, nur dass einige Absätze (Zweiquellentheorie, Urevangeliumshypothese und Fragmentenhypothese) etwas ausführlicher entfaltet werden. Allein der Abschnitt mit neueren Vertretern der vier Theorien (S. 18-23) ist stark erweitert. Die augustinische Sicht wurde u.a. von Butler verteidigt, die Griesbach-Hypothese von Farmer, die Urevangeliumshypothese von Vaganay und Léon-Dufour und die "Multiple Source Theory" von Boismard und Rolland. Was die Traditionshypothese angeht, so hat Reicke in der Betonung der mündlichen Tradition bei
Riesenfeld und Gerhardsson erste Schritte in diese Richtung entdeckt
(S. 20f.). Außerdem könne auch die aus der Folkloreforschung
bekannte Variabilität der mündlichen Tradition68 die
Übereinstimmungen und Differenzen zwischen den Evangelien erklären.
Das folgende Kapitel 2 zu Kontextparallelen und
Alibianalogien ist zunächst eine Übersetzung des entsprechenden
Artikelabschnitts (vgl. S. 24-29 mit S. 1770-1775). Daraus entwickelt Reicke
dann aber in seinem Buch noch weitere Argumente gegen eine Benutzungshypothese:
(1) Die Dreier-, Zweier- und Sondertradition sind so sehr ineinander verwoben,
dass dieses Mosaikmuster nicht durch literarische Abhängigkeit erklärbar
ist (S. 29). (2) Bei Benutzungs- und Urevangeliumshypothesen sollte man
Wortlautübereinstimmungen in der Tripeltradition immer zwischen bestimmten
Evangelien erwarten können, doch tatsächlich ist ein "Zickzackmuster"
zu beobachten: Manchmal ähneln sich Mt und Mk im Wortlaut, manchmal
Lk und Mk, und dann mehr Mt und Lk (S. 29f.).
Eine zentrale Stellung hat in diesem Buch die am
Ende von Kapitel 2 folgende synoptische Tabelle zu Kontextparallelen (S.
34-44), mit der Reicke veranschaulicht, in welchen Teilen der Evangelien
viele kontextparallele Abschnitte vorliegen und in welchen Teilen wenige.
Dazu teilt Reicke die Evangelien in 12 Blöcke auf, die er meist aufgrund
der Örtlichkeit abgrenzt. Reicke beobachtet nun, dass kontextparallele
Tripeltraditionen unterschiedlich auf die Blöcke verteilt sind und
besonders im größeren Zusammenhang von Tauf- (Mt 3,1-4,17par;
Block 2) und Passionsbericht (Mt 21,1-28,20par; Blöcke 10-12) auftreten.
Aufgrund dieser Tabelle erweitert Reicke in Kap. 3 seine schon im ANRW-Artikel
skizzierte Theorie der Evangelienentstehung, die er später im Hauptteil
des Buches (S. 68-149) Block für Block illustriert.
Wenn noch bei Papias und bei Ignatius die vox
viva (die lebendige mündliche Tradition) eine hohe Bedeutung hatte,
dann werden auch die Evangelisten am liebsten auf sie zurückgegriffen
haben (S. 46f.). Die mündliche Tradition, die dabei von ihnen aufgenommen
wurde, bestand nicht aus spontanen, informellen Erinnerungen, sondern hatte
durch häufiges Nacherzählen bereits eine relativ feste Form (S.
47). Bei Taufe und Abendmahl in der Urgemeinde wurden regelmäßig
Tauf- und Passionsgeschichte Jesu samt Kontext nacherzählt (Blöcke
2 und 10-12); dann wurden noch weitere Erinnerungen lebendig und zu didaktischen
Zwecken ebenfalls überliefert (Material der Blöcke 1 und 3-9)
(S. 54f., 67). Die größere Zahl der Kontextparallelen in den
erstgenannten Blöcken erklärt Reicke also
68 Reicke bezieht sich hier auf die Forschungen von A. B. Lord. Vgl. neuerdings Lauri Honko, "Thick Corpus and Organic Variation: An Introduction", Thick Corpus, Organic Variation and Textuality in Oral Tradition, Hg. Lauri Honko, Studia Fennica Folkloristica 7, Helsinki: Finnish Literature Society, 2000, S. 3-28.
offenbar durch deren zeitliche Priorität in der Überlieferung
und durch möglicherweise häufigere Zitation der Abschnitte.
Auf diese recht feste mündliche Tradition der
Jerusalemer Urgemeinde konnten sich nach Reicke die Evangelisten stützen.
Das Fundament ihrer Tripeltradition ist also in der apostolischen Predigt,
besonders den Erinnerungen des Petrus, zu finden (S. 48). Weil es in Jerusalem
auch griechischsprachige Jünger gab, kann die griechische Tripeltradition
ebenfalls dort verankert werden (S. 50). Mk und die Übersetzer des
aramäischen Mt haben nun den festgefügten griechischen Wortlaut
der Jerusalemer Tradition benutzt, und auch Lukas war mit Menschen aus
dem griechischsprachigen Teil der Urgemeinde bekannt (S. 51f.). Neben dieser
Tripeltradition kursierte noch Q-Material, das nicht innerhalb des Lebens
Jesu verortet war und das Mt und Lk dort einfügten, wo es ihnen passend
erschien. So wurden Textkomplexe in den Evangelien manchmal unterschiedlich
lokalisiert (das Vaterunser steht bei Mt in der Bergpredigt, bei Lk im
Reisebericht) (S. 53f.).
Anhand einer Untersuchung der einzelnen Blöcke
(Kapitel 4-6) illustriert Reicke dann seine Theorie der Evangelienentstehung.
In seinen Ausführungen zu Block 9 beispielsweise ordnet er die Perikopen
der Dreier-, Zweier- oder Sondertradition zu und fragt danach, welche Bedeutung
diese Überlieferungen für die Jerusalemer Urgemeinde gehabt haben
könnten (z.B. Frage nach der Ehescheidung; Zachäus als "pioneer
of benevolence"). Das Gleichnis von den Pfunden, das bei Lk und bei Mt
unterschiedlich verortet wird (Lk: Jericho; Mt: Abschiedsrede in Jerusalem),
sollte die Jünger ermutigen, "Frucht" zu bringen und die Botschaft
vom Reich auszubreiten. Durch diese Bezüge auf die Urgemeinde weist
Reicke nach, dass die Textabschnitte von Block 9 "contain material collected
for the information of the apostolic and Hellenistic Church in Jerusalem"
(S. 127).
Der Schlussteil des Buches beschäftigt sich
im Wesentlichen mit Verfasserschaft, Abfassungsort und -zeit der Evangelien.
Reicke behandelt dazu ausführlich die Papiaszitate zur Entstehung
der Evangelien (S. 155-166). Da Papias von einem aramäischen MtEv
ausgeht, versucht Reicke den Befund im griechischen MtEv so zu erklären,
dass die griechischen Übersetzer des aramäischen MtEv noch wie
Mk und Lk aus einer vorliterarischen griechischen Tradition der Urgemeinde
geschöpft, Semitismen
reduziert und AT-Zitate der LXX angeglichen haben (S. 159f.). Nach Reickes
Rekonstruktion haben sich auch Mk und Lk in Cäsarea 58-60 n. Chr.
miteinander ausgetauscht und beide haben dort ihre Evangelien herausgebracht
(S. 165f., 170). Lukas hatte in dieser Zeit Gelegenheit, die Hellenisten
in Jerusalem und Philippus in Cäsarea zu befragen (S. 170, 173). Reickes
weitere Ausführungen zur Chronologie (S. 174-180) wollen diese Abfassungszeit
untermauern. Umfassend begründet er, dass die Apg wegen ihres plötzlichen
Abbrechens mit Paulus' Aufenthalt in Rom auf 62 n. Chr. anzusetzen ist.
Also muss Lk das Evangelium etwa um 60 n. Chr. geschrieben haben. Nach
Reickes
Interpretation von Lk 1,1-4 sind damals auch andere gerade dabei gewesen,
ein Evangelium zu schreiben: Mt und Mk. Also sind auch diese beiden um
60 n. Chr. zu datieren (S. 180).
Reicke wendet sich abschließend den möglichen
persönlichen Beziehungen zwischen den Verfassern zu. Zwischen Mt und
Mk ist kein Kontakt überliefert; so erklärt Reicke die Ähnlichkeiten
der Evangelien allein mit der gleichen Tradition, aus der beide (bzw. Mk
und die Übersetzer des Mt) schöpften. Mt verwendete noch zusätzliches
didaktisches Material, das weitgehend auf Petrus zurückgeht (S. 182).
Auch zwischen Mt und Lk ist keine Beziehung bekannt, doch stammen ihre
Stoffe jeweils aus der Jerusalemer Katechese. Mt bekam sein Material aus
der petrinischen Predigt, Lk dagegen das meiste wohl über Philippus
und die Hellenisten, was auch Unterschiede in der Q-Tradition erklärt
(S. 187f.) (zum Verhältnis von Mk und Lk s.o.).
[Top]
2.2.4 John Wenham (1991)
Wenhams Buch Redating Matthew, Mark & Luke
zielt darauf ab, eine Frühdatierung der Evangelien zu begründen
(vgl. Kap. 12). Wesentlicher Bestandteil der Argumentation ist dabei die
TH, die er in den ersten zehn Kapiteln entwickelt. Auf eine Untersuchung
der internen Evidenz (Kapitel 2-4) folgt eine intensive Betrachtung der
Kirchenväterzeugnisse (Kapitel 5-9), um anschließend die Entstehungsverhältnisse
der Evangelien nachzuzeichnen (Kapitel 10).
Wenham versucht, einen Mittelweg zwischen der klassischen
Traditionshypothese und den Benutzungshypothesen zu finden (S. 10). Dabei
nimmt er eine gewisse Abhängigkeit in der Struktur der Evangelien,
aber weitgehende Unabhängigkeit im Wortlaut an (S. xxiii; vgl. Kap.
10).69 So kann man sich streiten, ob er eher zur Traditions-
oder mehr zur au-
69 Vgl. schon John Wenham, "Synoptic Independence and the Origin of Luke's Travel Narrative", New Testament Studies 27 (1981), S. 507-515, wo er "a large measure of independence as well as a large measure of interdependence" zwischen den Evangelien feststellte (S. 513). Die Frühdatierung der Evangelien hatte Wenham bereits 1978 vorgeschlagen, vgl. die Antwort von Douglas J. Moo, "'Gospel Origins': A Reply to J. W. Wenham", Trinity Journal N.F. 2 (1981), S. 24-36.
gustinischen Hypothese neigt. Er selbst hat jedenfalls die Bezeichnung
"Oral Theory with some measure of successive dependence" gewählt (S.
xxviii), d. h. der Schwerpunkt liegt auf "oral". Die Besonderheit von Wenhams
Modell besteht in der von ihm angenommenen sequenziellen Abhängigkeit:
Wenham kritisiert bei Rist und Reicke, dass sie die großen Übereinstimmungen
in der Reihenfolge der Perikopen nicht hätten erklären können
(S. 6f.). Hier sei es wahrscheinlicher, dass ein Evangelist dem anderen
folgte oder beide eine gemeinsame Quelle benutzten, anstatt dass die Synoptiker
eine auswendig gelernte Reihenfolge verwendeten, die sie dann doch nicht
konsequent beibehielten (S. 7). Gegen Scott, der vom Lukasprolog aus für
eine Traditionshypothese argumentiert, wendet er ein, dass das Wort paradi&dwmi
auch schriftliche Quellen einschließen könne und dass man aus
diesem kurzen Abschnitt nicht zu viel herauslesen sollte. Vielmehr sei
der Lukasprolog mit verschiedenen Hypothesen kompatibel (S. 8). Die gemeinsame
Reihenfolge sei eben nicht allein aufgrund der mündlichen Tradition
erklärbar, weil man sich die Anordnung von 72 Perikopen hätte
merken müssen (S. 9).
In Kapitel 2-4 addiert Wenham Stück für
Stück die Bausteine seiner Traditionshypothese. Er untersucht anhand
der internen Evidenz die gegenseitigen Beziehungen von Lk und Mk (Kap.
2), von Lk und Mt (Kap. 3) und von Mt und Mk (Kap. 4).
Zunächst geht es um das Verhältnis von
Lk und Mk (Kap. 2: S. 11-39). Wenham argumentiert, dass nicht Mk das LkEv
benutzt habe, sondern Lk das MkEv. 52 Lk-Mk-Perikopen haben nach Wenham
eine gemeinsame Herkunft, weil sich Lk hier eng (höchstens mit Erweiterungen)
an Mk hält; 14 gemeinsame Textpassagen sind verschiedener Herkunft,
weil die Unterschiede größer sind. Die Einordnung in diese beiden
Kategorien demonstriert Wenham durch Analysen der entsprechenden Bibelstellen.
Kapitel 3 (S. 40-87) behandelt die Beziehung des
Lk zu Mt. Lk sei weder von Q noch in größerem Maße von
Mt abhängig, weil Lk angesichts von Lk 1,1-4 wohl kaum bewusst den
Sinn seiner Quellen verändert hätte, aber solche Sinnunterschiede
eben doch im Q-Stoff auftreten, und weil Lk viel Q-Material umgestellt
haben müsste (S. 43-51). Die Unterschiede in Sinn und Wortlaut des
Q-Materials im lukanischen Reisebericht entstammen nach Wenham verschiedenen
Predigten Jesu (S. 76f.).70 Für den Reisebericht könnte
dabei einer der 70 als Informant gedient haben (S. 77-79).
In Kapitel 4 sammelt Wenham Argumente für eine
Mt-Priorität (S. 89-109). Das MtEv mache einen frühen und palästinischen
Eindruck (S. 95), Mk habe manchmal Mt-Material ausgelassen (S. 97-101),
die drei Perikopenumstellungen zwischen beiden Evangelien seien
70 Vgl. Wenham, "Synoptic Independence", S. 511f.
in der Richtung Mt => Mk besser erklärbar (S. 101-109) und es gebe
Hinweise auf semitische Einflüsse im MtEv. Das MtEv sei von dem Apostel
Mt verfasst worden, der als ehemaliger Zöllner schreiben konnte. Er
oder jemand anders habe sich auch sehr wahrscheinlich bei den Predigten
Jesu Notizen gemacht (S. 113f.).
Die nächsten vier Abschnitte (Kap. 5-9; S.
116-197) beschäftigen sich im Wesentlichen mit den altkirchlichen
Zeugnissen zur Abfassung des MtEv (Kap. 5), des MkEv (Kap. 6) und des LkEv
(Kap. 9), womit Wenham seine Thesen unterstützen will. Die Existenz
eines aramäischen MtEv und dessen apostolische Verfasserschaft werden
von den Kirchenvätern nahezu einmütig bezeugt. Moderne kritische
Anfragen an Papias werden von Wenham zurückgewiesen (S. 125-133).
Das MkEv sei von Mk, einem Interpreten (nicht Dolmetscher) des Petrus,
aufgeschrieben worden und wird bei den Kirchenvätern im Zusammenhang
mit der petrinischen Predigt in Rom genannt. Im folgenden Abschnitt versucht
Wenham nachzuweisen, dass Petrus schon 42-44 v.Chr. in Rom gewesen sei
(S. 146-172), sodass das MkEv entsprechend früh geschrieben wurde.
Das LkEv schließlich stamme von dem Arzt Lk, einem Gefährten
des Paulus. Problematisch für die traditionelle Reihenfolge Mt-Mk-Lk
ist die Aussage des Clemens, dass die Evangelien mit den Genealogien zuerst
geschrieben wurden, aber Wenham sucht nach Erklärungsmöglichkeiten
(S. 187-195).
In Kapitel 10-12 (S. 198-244) entwickelt Wenham
dann sein eigenes Modell. Zuerst werden in Kapitel 10 (S. 198-216) die
Abfassungssituationen der Evangelien rekonstruiert. Die Christen in der
Urgemeinde wurden auf Aramäisch und Griechisch in "a more or less
stereotyped form" gelehrt (S. 200). Es waren wohl schon einige Notizen
im Umlauf (S. 199, vgl. S. 113f.) Das Schreiben war damals sehr mühevoll;
darum ist es nach Wenham aus rein praktischen Gründen unwahrscheinlich,
dass sich jemand aus mehreren Schriftrollen den Stoff zusammengesucht habe
(S. 204-206). Außerdem gebe es in der sonstigen antiken Literatur
auch nicht bei herausragenden Schriftstellern eine solch komplexe Redaktionstätigkeit,
wie wir sie für die Evangelien annehmen müssten (Wenham verweist
auf Downing; vgl. 3.2.3.7). Mk habe vielmehr sein eigenes Material, die
Petruspredigten, auf einzelne Blätter geschrieben, sie nach einer
Durchsicht des MtEv entsprechend geordnet und dann aus seinen Blättern
das eigene Evangelium zusammengestellt (S. 207f.). Auch Lk habe sein Traditionsmaterial
der Reihenfolge des Mk und Mt angepasst. Aus Platzgründen habe er
beschlossen, den größten Teil des Matthäusstoffes auszulassen.
Den Stoff von Mk 6,45-8,26 habe Lk dann wohl übersprungen, als er
merkte, dass das gesammelte Material immer noch nicht auf eine Schriftrolle
passen würde (S. 209f.). Mk wie Lk hätten in einer letzten vergleichenden
Durchsicht kleinere Korrekturen und Anpassungen an ihre Vorlagen vorgenommen.
Ob Mk das aramäische oder das griechische MtEv vorlag, sei nicht sicher
(S. 202).
Anschließend in Kap. 11 (S. 217-222) versucht
Wenham zu beantworten, warum die synoptische Tradition, wenn sie denn früh
sei, so wenig in anderen Schriften auftaucht: Eine Dissertation von M.
B. Thompson zeige anhand von Röm 12,1-15,13, dass Pls selbst einen
großen Teil der Jesustradition gekannt habe und Kenntnisse auch bei
den normalen Kirchenmitgliedern voraussetze; Lk habe in der Apg die Jesusworte
auch nicht wieder aufgegriffen; in den ersten zwei Generationen habe man
die "living voice" vorgezogen und sich dann wohl kaum auf Schriftliches
berufen; man hatte die Evangelien noch nicht allgemein zur Hand und konnte
das Zitat schwerlich nachprüfen; außerdem habe es eine gewisse
Zeit gedauert, bis man im Gottesdienst regelmäßig aus den Schriften
vorlas.
Im letzten Abschnitt (S. 223-244) spitzt Wenham
seine Ausführungen - getreu dem Titel des Buches - auf eine Frühdatierung
der Evangelien zu. Lk müsse sein Evangelium vor 55 n. Chr. abgefasst
haben, weil die Apg vor 62 n. Chr. geschrieben worden sei und Lk und sein
Evangelium schon in 2Kor 8,18 erwähnt seien, wobei Wenham gezwungen
ist, letzteres ausführlich zu begründen (S. 230-237). Das MkEv
sei auf 45 n. Chr. zu datieren, d. h. nach der Abreise des Petrus aus Rom
(44 n. Chr.), und das aramäische MtEv vor 42 n. Chr. (hier bezieht
sich Wenham auf Irenäus, adv. haer. 3.1.1).
[Top]
2.2.5 Eta Linnemann (1992)
Eta Linnemann, eine inzwischen emeritierte Theologieprofessorin,
die Ende der 70er Jahre durch ihre Abkehr von der historisch-kritischen
Theologie von sich reden gemacht hat, ist als streitbare Vertreterin konservativer
Positionen bekannt. So vertritt sie auch in dem Buch Gibt es ein synoptisches
Problem?, das 1998 in dritter Auflage erschien, eine Traditionshypothese
mit Betonung der Augenzeugenschaft und historischen Zuverlässigkeit
der Berichte. Ihr Buch besteht aus vier Teilen. Zunächst kritisiert
sie das gegenwärtige wissenschaftliche theologische Arbeiten, besonders
was die Zweiquellentheorie angeht, im zweiten Teil argumentiert sie dann
mit empirischen Untersuchungen an den Synoptikern für eine literarische
Unabhängigkeit der Evangelien, um im nächsten Kapitel ihre Form
der
Traditionshypothese näher zu entfalten. Im letzten Abschnitt bietet
sie einige grobe Skizzen, wie die vier Evangelien zum Bild des Lebens Jesu
beitragen. Dass Linnemann in ihrem Buch leider manchmal etwas polemisch
wird, braucht uns nicht daran hindern, ihre Argumente anzuhören.
Im ersten Teil übt sie ganz allgemein Kritik
an der "theologischen Wissenschaft", die die Bezeichnung "Wissenschaft"
nicht verdiene (S. 11, vgl. S. 29, 33, 40, 63). Unangenehme Thesen werden
ignoriert (S. 11), Konzeptionen werden nur schwach mit Argumenten gestützt
und der nächsten Generation als wissenschaftliches Ergebnis präsentiert
und später vielleicht modifiziert, aber nicht grundlegend hinterfragt
(S. 18-21). Dies meint Linnemann exemplarisch an der Forschungsgeschichte
der synoptischen Frage zeigen zu können. Sie zählt in chronologischer
Folge verschiedene synoptische Theorien auf, die im 18. und 19. Jh. aufgebracht
wurden (S. 23-33) und weckt dadurch den Eindruck, die Zweiquellentheorie
hätte sich danach einfach deshalb durchgesetzt, weil sie den "aktuellen
theologischen Bedürfnissen" entsprach (S. 32). Auch heutige theologische
Lehrwerke vermittelten durch eine Ansammlung von Behauptungen ein tendenziöses
Bild, sodass dem ahnungslosen Studenten nichts anderes übrig bleibt,
als die Zweiquellentheorie für sich zu akzeptieren (S. 40-63).
Den größten Teil des Buches machen Linnemanns
empirische Analysen an den Synoptikern aus (S. 64-145). Anhand von fünf
Untersuchungen will sie feststellen, ob die drei Evangelien literarisch
unabhängig sind: Zunächst wird die allgemeine Zusammensetzung
der Synoptiker beobachtet, im zweiten Schritt hinterfragt sie den Akoluthiebeweis,
im dritten Schritt wird ermittelt, wie groß die Parallelität
zwischen den Evangelien ist, anschließend die Wortlautübereinstimmungen
in der Tripel- und Doppeltradition berechnet und fünftens untersucht
sie, ob der markinische Wortschatz auch bei Mt und Lk auftaucht.
Im ersten Schritt (S. 71-76) berechnet Linnemann
das Mt-Sondergut auf 4794 Wörter (26,16% von Mt), das Lk-Sondergut
auf 7790 Wörter (40,01% von Lk) und die mt-lk-Doppeltradition auf
3429 Wörter bei Mt (18,71%) und 3315 Wörter bei Lk (17,03%).
Dabei zählt sie alles als Sondergut, was formal selbständig ist
(also nicht die kleineren Überhänge) und was keine inhaltliche
Parallele hat (also auch Verse, die aufgrund des Kontextes sonst Q zugeschlagen
werden). Als zweites wird die Akoluthie untersucht (S. 77-85). Linnemann
stellt zwar eine Übereinstimmung in der Reihenfolge fest, hält
sie aber nicht für allzu hoch und meint dann, diese könne genauso
gut auf die Abfolge der historischen Ereignisse zurückzuführen
sein (S. 82).
Bei der Untersuchung des Parallelitätsumfanges
zwischen den drei Evangelien (S. 86-99) hebt Linnemann die Unterschiede
hervor. Sie macht dazu auf das Fehlen markinischen
Stoffes (Sondergut und Überhänge) bei Mt und Lk aufmerksam
(S. 86-88). Insgesamt handle es sich um 2216 Wörter (19,68% von Mk),
die weder von Mt noch von Lk aufgegriffen wurden. Zusätzlich sind
1441 Wörter (12,80% von Mk) nur von Mt nicht übernommen worden,
1571 Wörter (13,95%) nur von Lk nicht. Mt habe kleinere Überhänge
von 2270 Wörtern (20,16% von Mk), Lk von 1324 Wörtern (11,76%),
wobei dies meist Zusatzinformationen seien (S. 88-90). Aus diesen Zahlen
berechnet Linnemann insgesamt einen "Mangel an Parallelität": Bei
Mt gegenüber Mk 6498 Wörter (2216+1441+2270; zusätzlich
571 Wörter aus Perikopen, die nur bei Mt nicht vorkommen) (57,71%
von Mk) und bei Lk gegenüber Mk 7625 Wörter (67,72%). Die Evangelisten
müssten also ein unwahrscheinliches Maß an redaktioneller Arbeit
geleistet haben, ganz abgesehen von Wortumstellungen u.a. Angesichts so
großer Unterschiede sei die Behauptung einer literarischen Abhängigkeit
ungerechtfertigt (S. 98f.). Linnemann betont, es handle sich nämlich
"nicht um Dichtungen, die einen vorgegebenen Stoff kreativ umgestalten
wollen" (S. 99), sondern die Evangelisten wollten historische Berichte
verfassen (Lk 1,1), weswegen man bei literarischer Abhängigkeit eine
hohe Übereinstimmung erwarten könnte (von 80-90%, vgl. S. 101).
Sie fügt hinzu: "Bei derartigen Abweichungen vom Gemeinsamen der drei
Synoptiker müßte man die Evangelienschreiber für unerträgliche
Kritikaster halten, denen kaum ein Wort von ihrer Vorlage zusagte. Für
eine derartige Einstellung fehlt aber jedes Indiz."
In der vierten Analyse (S. 100-124) widmet Linnemann
sich dem Ausmaß der Wortlautübereinstimmungen innerhalb der
Tripeltradition. Die Objektivität ihres synoptischen Vergleichs will
sie dadurch gewährleisten, dass die Anzahl der gleichen Wörter
in Parallelperikopen ausgezählt werden. In ihrem Beispieltext (Taufe
Jesu; Mt 3,13-17par) zählt sie z.B. 13 völlig gleiche Wörter
für Mt/Mk/Lk, zusätzlich 12 gleiche Wörter nur bei Mt/Mk
usw. Auffälligerweise gibt es bei der Himmelsstimme die größten
Übereinstimmungen zwischen den Synoptikern. Anschließend ermittelt
sie die Anzahl der Unterschiede in dieser Perikope, indem sie jede Auslassung,
jede Hinzufügung, jede Wortumstellung71, jede andere Wortwahl
oder andere Wortform als Unterschied rechnet. Wenn ganze Satzteile oder
Sätze ausgelassen oder hinzugefügt werden, summieren sich schnell
die Abweichungen. So kommt Linnemann in einer Querschnittsuntersuchung
(innerhalb der Tripeltradition!) schließlich für Mt auf 95,34%
Unterschiede und bei Lk sogar auf 100,48% Unterschiede. Die Wortlautübereinstimmung
im "sinnvoll zu untersuchenden" Teil der Dreiertradition beträgt für
Mt/Lk 27,39% (bezogen auf die Mk-Wortzahl von 6450 Wörtern in
71 Linnemann selbst redet neutraler von „kleineren Überhängen", „anderer Stellung der Worte" usw. (S. 109), um in ihren Analysen die Terminologie der Benutzungshypothesen zu vermeiden.
diesen Perikopen), für Mt/Mk 41,83% und für Mk/Lk 34,42% (S.
123).72 Nach Linnemann müssten bei einer literarischen
Abhängigkeit die Übereinstimmungen viel größer sein.
Die Evangelisten seien keine Literaten, "die eine Quelle nur als Anregung
für ihre Kreativität und als Stoff für ihre Entwürfe
benutzten", wie die große Übereinstimmung in den Jesusworten
zeige (S. 125).
Ihr nächstes Argument bezieht sie aus einer
Wortschatzuntersuchung. 13,68% des Markuswortschatzes kommen weder bei
Mt noch Lk vor (schon das spreche gegen eine Benutzungshypothese; S. 126),
835 Wörter (65,08%) haben alle gemeinsam. Sie sucht nun nach
seltenen Wörter, die Mt und Lk möglicherweise aus Mk übernommen
haben könnten. Nach Eliminierung aller häufigen Wörter,
die zum allgemeinen NT-Wortschatz gehören, aller Wörter, die
ungleichgewichtig in den Evangelien vorkommen, und Streichung von 9 Namen
bzw. Ortsbezeichnungen bleiben 42 Wörter mit 54 Vorkommen übrig.
Weil sich nur einige davon in den entsprechenden Paralleltexten finden
und weitere in einem Jesuswort vorkommen, sprechen schließlich nur
noch drei Wörter für eine literarische Abhängigkeit (S.
130). Aber das ist keineswegs signifikant (S. 132).
Diese Ergebnisse kann man nun nach Linnemann mit
keiner der bekannten Arten von literarischer Abhängigkeit in Einklang
bringen: Eine redaktionelle Bearbeitung ist unwahrscheinlich, denn
sehr oft liegen keine sprachlichen Verbesserungen vor und die Zusatzinformationen
in den kleineren Überhängen sind so auch nicht zu erklären
(S. 140). Außerdem sind die Unterschiede in Wortwahl und Grammatik
einfach zu groß und Sätze und Perikopen auch verschieden angeordnet.
Genauso wenig kommt eine theologische Bearbeitung in Frage (S. 140f.),
weil dann auch Quellen verschiedener Herkunft verarbeitet wurden und die
Veränderungen vornehmlich durch die theologische Tendenz zu erklären
sein müssten. Daneben gelten dieselben Argumente wie zur redaktionellen
Bearbeitung. Gegen eine kreative Neugestaltung schließlich
sprechen die Übereinstimmungen besonders in den Jesusworten (S. 141).
Die (klassische) Zweiquellentheorie erinnert Linnemann noch einmal an die
Minor Agreements, die kleineren Überhänge, das Fehlen von Mk-Perikopen
bei Mt und Lk und an die Unterschiede von 95% bzw. 100% gegenüber
Mk in der Tripeltradition, während die Übereinstimmungen vergleichsweise
gering sind (S. 143f.).73
72 Aktualisierte Zahlen
auf der Grundlage der gesamten Tripeltradition (d.h. auch unter Einbeziehung
der 10 Perikopen, die weniger parallel sind) nach Linnemann, Bibelkritik,
S. 49-52: Mt/Mk/Lk 20,01% Wortlautübereinstimmungen, Mt/Mk (d.h. ohne
Lk) zusätzlich 21,35% Übereinstimmungen (=41,36%), Mk/Lk zusätzlich
11,46% und Mt/Lk 4,03% (immer bezogen auf die 7625 Mk-Wörter in der
Dreiertradition).
73 Einige zusätzliche
Argumente sind in dem späteren Buch Linnemanns Bibelkritik auf S.
13-52 zu finden. Der erste Teil ist auch erschienen als "Q - das verlorene
Evangelium: Fantasie oder Faktum?", Jahrbuch für evangelikale Theologie
9 (1995), S. 43-61 und auf englisch unter www.ine-
Die These der literarischen Unabhängigkeit könne
man empirisch überprüfen, indem man untersucht, wie groß
der Anteil an stereotypen Redewendungen im Alltag innerhalb desselben soziokulturellen
Kontextes ist. Außerdem könne man bei einer größeren
Menge von Nacherzählungen einen synoptischen Vergleich vornehmen (S.
146).
Die allgemeinen Übereinstimmungen (Inhalt und
Reihenfolge) zwischen den Evangelien sind nach Linnemann auf die genaue
Erinnerung an Worte und Taten Jesu zurückzuführen (d.h. nicht
auf die gemeinsame mündliche Tradition wie bei Reicke), und Unterschiede
erklärt Linnemann dadurch, dass die Sprache ein Ereignis immer nur
teilweise erfassen kann (S. 149f.). Dass die Ereignisse auch oft mit sehr
ähnlichen Worten beschrieben werden, hängt mit persönlichen
Sprachstereotypen zusammen (soziokultureller Hintergrund, Sprachbeherrschung,
Sprachniveau, Perspektive der Augenzeugenschaft u.a.; S. 150). Außerdem
habe der Heilige Geist bei der sprachlichen Erfassung geholfen (S. 150f.).
Und man müsse auch deswegen von "Angleichungen" ausgehen, weil die
Jünger ihre Erinnerungen miteinander besprochen haben (d.h. an diesem
Punkt spielt eine gewisse gemeinsame Tradition doch eine Rolle) (S. 152).
Sprachliche Ähnlichkeiten bei den Evangelisten kommen nach Linnemann
auch dadurch zustande, dass alle auf eine aramäische Quelle zurückgehen:
Das MtEv war ursprünglich aramäisch verfasst, Petrus als Informant
des Mk hatte eine mündliche aramäische Tradition im Kopf, und
die Berichterstatter des Lk schilderten die Ereignisse ebenfalls auf aramäisch.
Diese "Sprachstrukturen des aramäischen Originals" (d.h. wohl Semitismen)
seien noch teilweise in den Evangelien aufzufinden und für einige
Übereinstimmungen verantwortlich (S. 152).
Als Erklärung für größere Unterschiede
in den Berichten rechnet sie damit, dass verschiedene Abschnitte, z.B.
die Bergpredigt / Feldrede oder das Gleichnis von der königlichen
Hochzeit, von Jesus an verschiedenen Plätzen variiert worden sind
(S. 155). Bei den Summarien, die aufgrund ihres vermeintlich redaktionellen
Charakters oft als Argumente
xes.com/nt/synoptic_problem/lostqpr.html (5.3.01). Der
Q-Stoff hat auch nur eine Wortlautübereinstimmung von 41-42%, allgemein
sei zu beobachten: „Je länger ein Abschnitt ist, desto geringer ist
die Zahl der identischen Worte und desto größer die Zahl der
Unterschiede" (S. 23). So stimmt Mt 25,14-30 nur zu 20,62% im Wortlaut
überein, wobei 79% der Übereinstimmungen in der direkten Rede
des Gleichnisses vorkommen. Hier spielt das Erinnerungsvermögen eine
Rolle (S. 23f.).
Von den bisher berechneten Wortlautübereinstimmungen
sind durchschnittlich 33% allgemein zu erwartende Basiswörter (kai&,
Artikel, Pronomen), d.h. die Übereinstimmung ist weiter zu verringern
(S. 35). Das gemeinsame Vokabular der Evangelisten kann auch kein Argument
für eine literarische Abhängigkeit sein, denn von 839 gemeinsamen
Wörtern in der Tripeltradition kommen schon 793 in der Septuaginta
vor, der Rest sind v.a. Namen und zeitgeschichtliche Begriffe (S. 37f.).
Eine primitivere Sprache bei Mk als Begründung für die Mk-Priorität
kann man nicht an der angeblich geringeren Anzahl an verba composita festmachen
(S. 40f.). S. 42-49 nimmt Linnemann die Argumentation von Stein auseinander,
der die üblichen Argumente für die Zweiquellentheorie bringt
(hohe Wortlautübereinstimmungen im griechischen Text, Akoluthiebeweis
usw.; außerdem Übereinstimmungen in Parenthesen).
für eine literarische Abhängigkeit angeführt werden,
weist sie deren geringe Übereinstimmung nach (S. 157f.).
Schließlich wendet sich Linnemann gegen die
Existenz verschiedener (anonymer) Einzeltraditionen, die von der Formgeschichte
vorausgesetzt werden, und bemängelt,
dass auch viele Evangelikale dies akzeptiert hätten (S. 163, 166).
Sie betont stattdessen die persönliche Erinnerung der Apostel, die
"(e)in vergessener Faktor" sei (S. 167). Die Apostel und die Verwandtschaft
Jesu werden nämlich "aus großem Verantwortungsbewusstsein ...
mit Strenge über die Reinerhaltung des Überlieferungsgutes gewacht
haben" (S. 170).74 Sie hält es auch für möglich,
dass die Jünger einige schriftliche Notizen gemacht haben, aber möchte
sich nicht darauf festlegen (S. 171). Nach einer kurzen Betrachtung des
Papias- und Irenäuszitates folgert Linnemann, dass das aram. MtEv
63 n. Chr. abgefasst wurde und Lk und Mk ihr Evangelium 64-66 n. Chr. nach
dem Tod des Petrus und Paulus aufgeschrieben haben (S. 174f.).
74 Zitat aus Wolfgang Schadewaldt, "Die Zuverlässigkeit der synoptischen Tradition", Theologische Beiträge 13 (1982), S. 201-223, hier S. 220.
[Top]
3. ARGUMENTE DER TRADITIONSHYPOTHESE
In diesem Kapitel sollen jetzt die Argumente der
Vertreter der TH systematisch zusammengetragen werden. Das ist deshalb
eine lohnende Aufgabe, weil Befürworter der TH sehr unterschiedliche
Begründungsansätze haben und sich oft recht einseitig auf bestimmte
Aspekte konzentrieren (Rist: unerklärbare Redaktion; Reicke: Kontextparallelen
und historischer Hintergrund der TH; Scott: Lukasprolog; Linnemann: Wortlautübereinstimmungen
usw.). Hier soll nun ein umfassendes Bild der Argumente der TH entstehen.
Wenn manche Phänomene von Vertretern der TH auf verschiedene Weise
erklärt werden (z. B. die gemeinsame Reihenfolge der Evangelien),
wird dies entsprechend dargestellt. Ihre Argumente werden gegebenenfalls
auch durch passende Untersuchungen solcher Forscher ergänzt, die nicht
unbedingt der TH angehören.
Zunächst wird die externe Evidenz (Lukasprolog,
Aussagen der Alten Kirche) behandelt (3.1), weil es methodisch sinnvoll
ist, die Quellen zu fragen, ob sie etwas über die Entstehung der Evangelien
sagen, bevor man eigene Theorien entwickelt. Dann folgt die Betrachtung
der internen Evidenz (3.2), wo gezeigt wird, dass verschiedene Phänomene
in den Evangelientexten mit der TH gut erklärt werden können,
teilweise besser als im Rahmen der Zweiquellentheorie. Am Schluss des Kapitels
stehen historische Überlegungen zur TH (3.3), mit denen nachgewiesen
werden soll, dass die Einzelelemente der TH historisch plausibel, also
für die damalige Zeit durchaus anzunehmen sind.
1 )Epeidh&per polloi\ e)pexei/rhsan a)nata&casqai
dih&ghsin
peri\ tw~n peplhroforhme&nwn
e)n h(mi=n pragma&twn,
2 kaqw\j
pare&dosan h(mi=n oi( a)p )a)rxh=j au)to&ptai kai\ u(phre&tai
geno&menoi tou= lo&gou,
3 e1doce ka)moi\ parhkolouqhko&ti a1nwqen
pa~sin a)kribw~j
kaqech=j soi gra&yai,
kra&tiste Qeo&file,
4 i3na e)pignw~|j peri\ w4n kathxh&qhj
lo&gwn th\n a)sfa&leian. (Lk 1,1-4)
Der Lukasprolog wird sehr unterschiedlich gedeutet, auch innerhalb der Traditionshypothese. Einige, wie Rist und Wenham, gehen wie selbstverständlich davon aus, dass Lk hier von seiner Benutzung anderer Evangelien spricht, ohne dass sie intensiver auf den Lukasprolog eingehen.75 Andere berufen sich auf den Lukasprolog für die Existenz griechischer
75 Rist, Independence, S. 4f., 10f., 108; Wenham, Redating, S. 8 nennt immerhin ein exegetisches Argument gegen Scott, dass paradi&dwmi auch schriftliche Überlieferungen beinhalten könne. Außer-
Diegesen;76 eine Abhängigkeit von anderen Evangelien
wird dagegen ausgeschlossen77. Nach Reickes Meinung habe Lk
mit diesen Versen aussagen wollen, dass auch Mt, Mk und andere es gerade
in Angriff genommen hatten (e)pexei/rhsan),
ein Evangelium zu schreiben. So gelangt Reicke bei den Synoptikern zu simultanen
Abfassungszeiten. Deswegen habe Lk allein die mündliche Tradition
verwendet, zumal er sich ausdrücklich auf die para&dosij
der Augenzeugen und Diener des Wortes zurückbezieht.78
Linnemann schließlich sieht hier gar keine Erwähnung von anderen
Evangelien, denn a)nata&ssomai solle nicht
mit "abfassen" übersetzt werden,
polloi&
könnte sich nicht bloß auf die zwei Evangelien des Mt und Mk
beziehen und apokryphe Evangelien hätten damals noch nicht existiert.
Vielmehr meine Lk in 1,1 mündliche Berichte vom Leben Jesu.79
Scott hat in seiner 500-seitigen Dissertation den
Lukasprolog wohl so umfassend wie niemand sonst untersucht und kommt dabei
zu dem Ergebnis, dass Lk von anderen schriftlichen Quellen wie Mt, Mk und
Q gewusst, aber sie nicht benutzt habe, da er selbst den Berichten der
Apostel, deren Begleiter er war, folgte.80 Durch die Unabhängigkeit
des Lk müsse auch die Existenz von Q aufgegeben werden (S. 211). So
gelangt Scott schließlich zur Traditionshypothese, die er im übrigen
auch mit literarischen Untersuchungen begründet (S. 212-265).81
Neuerdings hat Felix82 den Lukasprolog
analysiert. Auch er zieht dieselbe exegetische Bilanz: "Exegetically, the
use of Luke 1:1-4 to support the idea that a relationship of literary dependence
exists among the gospels written by Matthew, Mark, and Luke is quite
dem dürfe man aus diesen wenigen
Versen nicht viel herauslesen.
76 Hörster, Einleitung,
S. 17; van den Brink, "Onafhankelijkheid", S. 80.
77 Vgl. Hörster, Einleitung,
S. 23; van den Brink, "Onafhankelijkheid", S. 82, 84f.
78 Reicke, Roots,
S. 45, 180; vgl. Reicke, "Entstehungsverhältnisse", S. 1775f.
79 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 175f.
80 Scott, Luke's Preface,
S. 171, 207, 209. "Luke recorded the gospel traditions that he had learned
directly from the apostles, and wrote independently of Mark, Matthew, Q,
or any other possible written source" (S. 207).
81 Auch Armin D. Baum stellt
nach einer Analyse der Interpretationen des Lukasprologs im 18. und 19.
Jahrhundert fest, dass die Markushypothese mit dem Lukasprolog "unvereinbar"
sei ("Älteste Teilantwort", S. 28). Der Lukasprolog spreche stattdessen
am ehesten für eine TH: "Die weitestgehenden Übereinstimmungen
mit dem Lukasprolog weist die Traditionshypothese ... auf" (Ebd., S. 30).
Vgl. ders., Lukas als Historiker der letzten Jesusreise, Monographien
und Studienbücher 379, Wuppertal: Brockhaus, 1993, hier S. 107-111,
und Jakob van Bruggen, Christ on Earth: The Gospel Narratives as History,
Grand Rapids: Baker, 1998, S. 62-68.
82 Paul W. Felix, "Literary
Dependence and Luke's Prologue", The Master's Seminary Journal 8
(1997), S. 61-82.
improbable".83 Seine Einzelbeobachtungen, die ihn zu diesem Fazit führen, sind folgende (S. 79-81): 1) Es ist in Lk 1,1 nicht davon die Rede, dass Lk ganze Evangelien (Mt oder Mk) benutzte. 2) Lk spricht von "vielen", nicht von Mk, Q und L. Wenn Lk hauptsächlich nur ein bis zwei Quellen redigierte, passt dies auch nicht zu seiner eigenen Angabe, dass er intensive Nachforschungen betrieben habe (1,3). 3) Mt und Mk konnten nicht zu den polloi& gehören, weil sie zu den Augenzeugen und Wortdienern gezählt werden müssen. 4) Es ist unwahrscheinlich, dass Lk Schriften apostolischer Herkunft durch genaueres Nachforschen und das leicht abwertende e)pexei&rhsan in Frage gestellt hätte. 5) Lk hätte Theophilus einfach das MtEv oder MkEv weitergeben können, wenn er diese Evangelien zur Hand gehabt hätte. 6) Lk hätte nicht betonen müssen, dass er kaqech=j schrieb, wenn Mk dies auch tat. 7) Wahrscheinlicher ist es, dass Lk für sein Evangelium eine Reihe schriftlicher Quellen (die nicht Mk oder Mt entsprechen) (vgl. 1,1) sowie mündliche Berichte der Augenzeugen (vgl. 1,2) verwendete.
[Top]
3.1.2 Aussagen der Alten Kirche
Heutige Modelle zur Entstehung der Synoptiker sollten
möglichst im Einklang mit altkirchlichen Aussagen stehen. Die frühkirchlichen
Zeugnisse zur Evangelienentstehung machen Angaben zu Verfassern und zu
Abfassungszeiten, zur Existenz eines aramäischen Mt, zur chronologischen
Reihenfolge der Evangelien und zur Herkunft der Informationen der Evangelisten
(Letzteres betrifft auch die Frage nach einer literarischen Abhängigkeit).
Auch die ersten beiden Themen werden von Vertretern der TH behandelt, aber
für die Frage nach dem Entstehungsmodell sind die letzten drei Punkte
besonders relevant.
3.1.2.1 Zur Existenz eines aramäischen
Mt
Die frühe Kirche erklärt einmütig,
dass Matthäus seine schriftlichen Aufzeichnungen auf "hebräisch"
(d.h. wohl aramäisch) verfasst habe. Wenham ist derjenige unter den
Vertretern der TH, der die Existenz eines aramäischen Mt am ausführlichsten
verteidigt. Nach seiner Zusammenstellung wird ein aramäischer Mt bezeugt
von Papias (bei Euseb, h.e. 3.39.16)84, Irenäus
(adv. haer. 3.1.1), Pantaenus (bei Eusebius, h.e. 5.10.3
und bei Hieronymus,
de vir. ill. 36), Origenes (bei Eusebius, h.e.
6.25.4), Eusebius (h.e. 3.24.6 und in ad Marinum,
83 Ebd., S. 82. Scott scheint
ihm nicht bekannt zu sein; jedenfalls verweist Felix nicht auf ihn, obwohl
er sonst viel Literatur zitiert.
84 Matqai=oj
me\n ou]n 9Ebrai5di diale/ktw| ta\ lo&gia suneta&cato, h(rmh&neusen
d 0 au)ta\, w(j h]n dunato\j e#kastoj (Die Apostolischen Väter:
Griechisch-deutsche Parallelausgabe, Hg. Andreas Lindemann / Henning
Paulsen, Tübingen: Mohr, 1992, S. 294).
quaestio 2), Epiphanius (adv. haer. 29.9.4; 30.3.7); Kyrill v.
Jerusalem (Catecheses 14.15), Hieronymus (Matthäusprolog;
de
vir. ill. 3) u. a.85 Gegen Versuche, die Aussagen des Papias
abzuwerten oder umzudeuten, argumentiert Wenham relativ detailliert (S.
125-133). Auch Reicke, Linnemann und Mauerhofer86 beachten die
altkirchlichen Nachrichten und bauen einen aramäischen Mt in ihr Modell
mit ein. Für Rist dagegen passen die Aussagen nicht zu der von ihm
angenommenen literarischen Abhängigkeit des Lk vom MtEv. Wohl deswegen
relativiert er die Aussagen der Kirchenväter zum aramäischen
MtEv: Irenäus, adv. haer. 3.1.1, sei möglicherweise von
Papias abhängig, und auch das papianische Zeugnis sei nicht sicher
zu deuten.87
Die TH kann ein aramäisches MtEv, das von der
Alten Kirche recht gut bezeugt ist, sehr viel besser integrieren als die
Zweiquellentheorie. Bekanntermaßen ist es exegetisch fraglich, die
lo&gia
des Mt, von denen Papias spricht, als Quelle Q zu deuten.88
3.1.2.2 Zur Reihenfolge der Evangelien
Die Abfolge der Synoptiker lautet bei den Kirchenvätern
meist Matthäus - Markus - Lukas. Nur Clemens von Alexandrien weicht
etwas ab, wenn er sagt, dass die Evangelien, die die Genealogien enthalten,
zuerst geschrieben wurden (bei Eusebius, h. e. 6.14.5). Wenham gibt
zu, dass sich die Griesbachhypothese auf dieses Zitat stützen kann,
aber er versucht, unter Bezugnahme auf Zahn die Aussage des Clemens zu
relativieren. Der Befund bei den anderen Kirchenvätern scheint einfach
zu schwer zu wiegen (Origenes bei Eusebius, h. e. 6.25.3-6; wohl
auch Irenäus, adv. haer. 3.1.1; das Muratorische Fragment nennt
Lk ausdrücklich als dritten Evangelisten; Eusebius, h. e. 3.24.6-11;
Augustin, de consensu evangelistarum 1.3).89
85 Wenham, Redating,
S. 117-119.
86 Reicke, Roots,
S. 158f. untersucht nur das Papiaszitat. Linnemann zitiert Papias und Irenäus
und meint: "Die Nachrichten sind so exakt, wie wir sie uns nur wünschen
können." (Synoptisches Problem?, S. 174). Mauerhofer, Einleitung,
Bd. 1, S. 208f. integriert einen aramäischen Mt in seinen Entwurf,
ohne vorher genauer auf die Kirchenväter einzugehen (ein wenig auf
S. 203).
87 Rist, Independence,
S. 96-99.
88 Schleiermacher hatte
sich mit seiner lo&gia-Deutung geirrt;
Weiße hatte aber zur Stützung der Existenz von Q die Schleiermachersche
Deutung des Papias benutzt. Vgl. Wenham, Redating, S. 128-130; Reicke,
Roots,
S. 156-158 und auch Hans-Herbert Stoldt, Geschichte und Kritik der Markushypothese,
1977, 2. erw. Aufl. Gießen: Brunnen, 1986, hier S. 47-50.
89 Wenham, Redating,
S. 188-195. Sehr hilfreich ist Helmut Merkel, "Die Überlieferungen
der Alten Kirche über das Verhältnis der Evangelien", The
Interrelations of the Gospels: A Symposium, Hg. D. L. Dungan, Bibliotheca
ephemeridum theologicarum Lovaniensium 95, Leuven: UP, 1990, S. 566-590,
der seinen Artikel nach den einzelnen Kirchenvätern ordnet und jeweils
auch nach der von ihnen angenommenen Reihenfolge der Evangelien fragt.
Für die abweichende Reihenfolge bei Clemens findet er eine Erklärung
(S. 578-581). Vgl. Stephen C. Carlson, "Clement of Alexandria on the 'Order'
of the Gospels", New Testament Studies 47 (2001), S. 118-125, hier
S. 125: "For the cause of synoptic source
Mit der Reihenfolge der Evangelien hat sich Wenham
am meisten beschäftigt; andere Vertreter der TH sind hier ausgesprochen
knapp. Reicke fragt gar nicht erst nach der Reihenfolge bei den Kirchenvätern,
sondern vertritt eine gleichzeitige Abfassung der Evangelien aufgrund seiner
Deutung des Lukasprologs.90 Mauerhofer befürwortet die
Griesbachsche Reihenfolge und sagt ganz lapidar: "Aufgrund der Väterzitate
wird die Reihenfolge bestätigt: Matthäus, Lukas, Markus".91
Linnemann erwähnt das Irenäus-Zitat und setzt das aramäische
MtEv daraufhin etwas früher an als die anderen beiden Evangelien.92
Wichtig für die Diskussion um TH oder Zweiquellentheorie
ist die Tatsache, dass die Matthäuspriorität in der Alten Kirche
nie angetastet wurde. Die TH kommt als Modell mit jeder Reihenfolge zurecht,
die Zweiquellentheorie muss aber eine Markuspriorität annehmen, die
bei keinem der Kirchenväter bezeugt ist.
3.1.2.3 Zu einer literarischen Abhängigkeit
Was die Herkunft der Informationen der Evangelisten
angeht, so betonen die Kirchenväter entweder die apostolische Verfasserschaft
(Mt) oder die enge Verbindung mit der Predigt eines Apostels (Mk als e9rmhneuth&j
des Petrus).93 Weil also ein zuverlässiges Zurückgreifen
der Evangelisten auf die Tradition bei den Kirchenvätern im Vordergrund
steht, ist eine literarische Abhängigkeit schwerlich anzunehmen.
Papias, Justin, Irenäus, das Muratorische Fragment, Origenes und Eusebius
setzen auf diese Weise eine literarische Unabhängigkeit der Evangelien
voraus.94 Merkel, ein ausgewiesener Spezialist zu den altkirchlichen
Aussagen über die Evangelien, zieht folgendes Fazit:
"Bei den Kirchenvätern herrscht die Auffassung
vor, die Evangelien gingen unmittelbar oder mittelbar auf Augenzeugen zurück.
An eine literarische Beziehung zwischen den Evangelien dachte man nur in
Ausnahmefällen, und dann stehen dogmatische Erwägungen im Hintergrund.
So sollte sich keine moderne 'Benutzungshypothese' auf die Kir-
criticism ... Clement's testimony can
no longer be relied upon as evidence for the relative order of the gospels."
90 Reicke, Roots,
S. 180. Nur bei der Beschreibung der Benutzungshypothesen (S. 2) nennt
er kurz die augustinische Hypothese, die die Reihenfolge Mt-Mk-Lk voraussetzt.
91 Mauerhofer, Einleitung,
Bd. 1, S. 203.
92 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 174f.
93 Vgl. Wenham, Redating,
S. 117-119, 137-142, 184f.
94 Merkel, "Überlieferungen",
S. 569, 572 (Papias), 573 (Justin), 575 (Irenäus), 577 (Muratorisches
Fragment), 581 (Origenes, Eusebius). Allein Augustin, De consensu evangelistarum
4.10.11 könnte man zugunsten literarischer Abhängigkeit deuten.
Merkel (S. 586-589) kommt aber zu dem Schluss, dass Augustins Aussage dogmatische
Gründe habe.
chenväter berufen."95
Die Zweiquellentheorie ist also in allen drei Punkten
(Existenz eines aramäischen Mt, Reihenfolge der Evangelien, literarische
Abhängigkeit der Evangelien) gegenüber der TH anscheinend deutlich
im Nachteil. Außerdem gibt es für Q und Dmk keinerlei Anhaltspunkte
bei den Kirchenvätern, es sei denn, man nähme die Schleiermachersche
lo&gia-Interpretation
für die Existenz von Q zu Hilfe. Es sollte also bedacht werden, dass
die synoptische Frage nicht von vornherein völlig offen ist. Ein Entstehungsmodell,
das sich gegen die Alte Kirche behaupten will, muss dafür schon sehr
gute Gründe vorbringen, erst recht, wenn man auch den Lukasprolog
gegen den Strich bürstet.
Im nächsten Teil soll nun die Erklärungsfähigkeit
der TH und der Zweiquellentheorie an verschiedenen textlichen Phänomenen
geprüft werden.
[Top]
Die Behandlung der internen Evidenz gliedert sich hier in die drei klassischen Gebiete Stoffauswahl, Stoffreihenfolge und Wortlaut. Sie ist also systematisch geordnet, d. h. die besten Argumente der TH stehen nicht unbedingt immer zu Anfang. Wenn bei einigen Punkten mehr, bei anderen Punkten weniger Namen genannt sind, ist dies auch ein Hinweis darauf, in welchem Maß diese Argumente von Vertretern der TH bisher benutzt wurden.
3.2.1 Stoffauswahl
3.2.1.1 Anteil an gemeinsamen Perikopen
Linnemann hat auf der Grundlage von Wortzählungen
den Umfang der mt-mk und lk-mk Doppeltraditionen neu berechnet. Das Gemeingut
des Mt mit Mk macht 55,12% (10101 Wörter) vom Wortumfang des MtEv
aus; Lk teilt durch die gemeinsamen Perikopen 42,93% (8365 Wörter)
seines Evangeliums mit Mk.96
Diese inhaltliche Gemeinsamkeit ist nach Linnemann
historisch begründet und noch nicht so hoch, dass sie eine literarische
Abhängigkeit als notwendig erscheinen lässt.97 In
Reickes Modell einer geprägten mündlichen Tradition in der Urgemeinde
kann der gemeinsame
95 Merkel, "Überlieferungen",
S. 589.
96 Linnemann, Synoptisches Problem?,
S. 72f.
97 Ebd., S. 142.
Stoff so erklärt werden, dass eine bestimmte Auswahl an Geschichten besonders häufig weitergegeben wurde. Der Hinweis auf den Anteil an gemeinsamen Perikopen ist also an sich noch kein Argument gegen die TH, da von ihr zwei Erklärungsansätze angeboten werden.
3.2.1.2 Sondergut bei Mk
Nach Linnemanns Zählungen fehlen bei Mt und
Lk sieben98 Markusperikopen ganz (549 Wörter, 4,88% des
MkEv). Mt hätte bei seiner Benutzung des MkEv insgesamt 16 Abschnitte
(1120 Wörter, 9,95% des MkEv) gestrichen, und Lk hätte sogar
31 Perikopen (3063 Wörter, 27,20% des MkEv) weggelassen (ganz abgesehen
von den Änderungen in der gemeinsamen Tradition), obwohl beide ansonsten
eher die Tendenz zur Hinzufügung neuen Stoffes aufweisen.99
Die TH hat keine Probleme mit der Existenz von Sondergut
in den Evangelien; es ist nach dieser Hypothese sogar zu erwarten. Umso
größer ist das Problem für die Zweiquellentheorie, das
Sondergut bei Mk zu erklären. Warum hat Mt 16 Perikopen ausgelassen
und Lk 31 Perikopen?100 Was ist mit der lukanischen Lücke
(Auslassung von Mk 6,45-8,26)? Die Hilfsannahmen, dass Mt und Lk eine überarbeitete
Fassung des Mk (=Dmk) verwendeten und dass Lk außerdem nur ein lückenhafter
Dmk zugänglich war,101 empfindet Linnemann als außerordentlich
hypothetisch.102 Noch drängender ist die Erklärungsnot
für die Griesbachhypothese, weil Mk sehr viel von Mt und Lk weggestrichen
haben müsste.103
3.2.1.3 Kleinere Überhänge
Linnemann verweist auf die "kleineren Überhänge
in beide Richtungen", die von der Zweiquellentheorie erklärt werden
müssten.104 Sie bezieht sich hier besonders auf Verkaiks
Arbeit The Tenability of Synoptic Independence.105 Demnach
gibt es in der Dreiertradition bei Mk 321 kleinere Überhänge
(1667 Wörter, 14,80% des MkEv), die weder bei Mt noch
98 Zu den klassischen Sondergut-Perikopen
Mk 3,20f.; 4,26-29; 7,31-37; 8,22-26 rechnet sie zusätzlich Mk 1,12f.;
13,33-37 und den Markusschluss 16,9-20.
99 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 86f., 98.
100 Ebd., S. 143.
101 Vgl. Schnelle, Einleitung,
S. 184-186, der Dmk ausdrücklich auch als Lösung für das
Problem des markinischen Sondergutes anbietet (S. 184).
102 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 52f.
103 Ebd., S. 145.
104 Ebd., S. 143f., vgl.
S. 98f.
105 Vgl. auch die ähnliche
Arbeit Verkaiks im Internet: "Hangovers".
bei Lk auftauchen.106 Mit dem Hinweis auf die kleineren Überhänge ist impliziert, dass an den Stellen, wo Mt oder Lk inhaltliche Ergänzungen zu Mk bieten, diese entweder erfunden sind107 oder auf (mündlichen) Zusatzinformationen beruhen. Im zweiten Fall würde ihr "Sondergut" aber dann auch Teile des Mk-Stoffes enthalten haben.
3.2.1.4 Doppelüberlieferungstexte Mk/Q
Rist beobachtet an Mt 3,7-17par und an Mt 4,1-11par,
dass hier Mk und Q teilweise einen gemeinsamen Inhalt bieten.108
Dieses Phänomen der Doppelüberlieferung betrifft Mk 1,2.7f.12f.;
3,22-26.27.29; 4,21.22.24.25; 4,30-32; 6,7-13; 8,11.12; 8,34-35; 8,38;
9,37.40.42.50; 10,10f.; 10,31; 11,22f.; 12,37b-40; 13,9.11.33-37 mit Parallelen.109
Rist kritisiert an der Zweiquellentheorie, dass
an den von ihm untersuchten Stellen eine mt Angleichung des Mk-Textes an
Q unwahrscheinlich ist und Q überhaupt in Frage gestellt werden muss.110
Im Rahmen der TH jedoch sind gerade solche Überschneidungen zu erwarten,
da die einzelnen mündlichen Überlieferungen nicht streng voneinander
getrennt werden können. Nach Reickes Deutung hat Mk deswegen weniger
didaktisches Material (d.h. auch Q-Traditionen) verwendet, weil ihm diese
Traditionen nicht allzu "nahe" waren111 bzw. weil er größeren
Wert auf die Auferbauung der Gläubigen durch narrative Stoffe legte.112
Das kerygmatische und didaktische Material, das stärker bei Mt und
Lk zu finden ist, hat nach Reicke dagegen primär der Evangelisation
und Vorbereitung zur Taufe gedient.
106 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 88. Stoldt, Markushypothese, S. 16-22 bietet eine
Liste von "nur" 180 kleineren Überhängen bei Mk.
107 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 99: "Bei den synoptischen Evangelien handelt es sich nicht
um Dichtungen, die einen vorgegebenen Stoff kreativ umgestalten wollten,
wie Goethe das mit dem alten Volksbuch vom Dr. Faustus tat." Vgl. auch
Rists Thesen (Independence, S. 109-111) gegen Goulders Midrash
and Lection in Matthew, der gerade eine solche Kreativität bei
Mt und Lk vermutet.
108 Rist, Independence,
S. 17-23.
109 Diese Stellen nennt
Schnelle, Einleitung, S. 209. Seine Erklärung für den
gemeinsamen Stoff von Mk und Q ist folgende: "Die gemeinsamen Textkomplexe
weisen auf einen unabhängigen Zugang beider zu alten Jesustraditionen
hin, aber auch Berührungen auf vorredaktioneller Ebene sind nicht
auszuschließen." (S. 210) Die Frage nach dem Verhältnis von
Mk und Q wird kontrovers diskutiert. Joachim Schüling, Studien
zum Verhältnis von Logienquelle und Markusevangelium, Forschungen
zur Bibel 65, Würzburg: Echter, 1991 meint, dass Mk und Q unabhängig
sind; Harry T. Fleddermann, Mark and Q: A Study of the Overlap Texts.
With an Assessment by F. Neirynck, Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum
Lovaniensium 122, Leuven: UP, 1995 vertritt die Auffassung, dass Mk Q gekannt
und benutzt hat (S. 214f.).
110 Rist, Independence,
S. 21f. Es ist für ihn wahrscheinlicher, dass Mt und Mk hier jeweils
auf die mündliche Tradition zurückgreifen; falls Mt auch eine
schriftliche Quelle verwendete, war es jedenfalls nicht Mk (S. 23, vgl.
S. 22).
111 Reicke, "Entstehungsverhältnisse",
S. 1774.
112 Reicke, Roots,
S. 57.
[Top]
3.2.2 Stoffanordnung
3.2.2.1 Übereinstimmende Reihenfolge
Diesem wichtigen Einwand gegen die TH, dass die
gemeinsame Akoluthie der Evangelien nicht ohne literarische Abhängigkeit
erklärbar sei, versucht man von Seiten der TH auf verschiedene Weise
zu begegnen.
Linnemann113 berechnet eine gemeinsame
Reihenfolge von 75% bei Mt/Mk und von 69,82% bei Mt/Lk (S. 77-85) und meint,
dass diese Übereinstimmungen in der Akoluthie "ebensogut historisch
vermittelt sein" können (S. 82), z. B. bei der Passionsgeschichte,
wo die Gemeinsamkeiten besonders deutlich sind (vgl. S. 79). Auch gewisse
wichtige Eckdaten des Lebens Jesu wie dessen Taufe, das Petrusbekenntnis,
Verklärung usw. seien ohne literarische Vorlage zu erklären,
und dazwischen stimme die Reihenfolge nicht allzusehr überein (S.
161). Der "einlinige Aufbau" der Evangelien (Galiläa - Reise nach
Jerusalem - Jerusalem) entstehe dadurch, dass die früheren Jerusalembesuche
nicht so zentral waren, aber die letzte Reise Jesu einfach erwähnt
werden musste (S. 160f.). Die erste Möglichkeit ist also die einer
rein historischen Erklärung der Akoluthie.
Reicke dagegen, der seine empirischen Untersuchungen
übrigens fast ganz auf die Stoffreihenfolge beschränkt, führt
die übereinstimmende Akoluthie auf die gefestigte mündliche Tradition
zurück. Die vielen Kontextparallelen in der Dreiertradition weisen
darauf hin, dass nicht nur der Wortlaut, sondern auch die Reihenfolge der
Geschichten geprägt war - ganz im Gegensatz zur Q-Tradition114.
Die stark vereinfachte Dreiteilung des Lebens Jesu beruhe auf Erinnerungen
an Jesu letzte Reise und an sein Wirken in Galiläa, die dann durch
verschiedene Ortstraditionen ergänzt wurden.115
Wenham schließlich meint speziell für
dieses Phänomen eine literarische Abhängigkeit annehmen
zu müssen und geht davon aus, dass die späteren Evangelisten
ihre Erzählungen in der Reihenfolge ihrer Vorgänger geordnet
hätten.116
3.2.2.2 Die Platzierung des Q-Stoffes
Eine zentrale Rolle spielt bei Reicke die Beobachtung,
dass die Q-Tradition durch ein "ungehemmtes Vagantentum"117
geprägt ist, während andererseits die Tripeltradition
113 Linnemann, Synoptisches
Problem? Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Buch.
114 Reicke, "Entstehungsverhältnisse",
S. 1787f.
115 Ebd., S. 1778-1780.
116 Wenham, Redating,
S. 207-210.
117 Reicke, "Entstehungsverhältnisse",
S. 1787.
weitgehend kontextparallel verläuft.118 Dieses Phänomen verwendet er als Argument gegen die Existenz von Q: "Die eigenartige Streuung der betreffenden Einheiten ... läßt vielmehr jede Annahme einer schriftlich oder mündlich irgendwie fixierten Unterlage der matthäisch-lukanischen Zweiertradition im Stil der angeblichen Logienquelle oder Spruchquelle als Trugbild erscheinen."119 Reicke selbst entwickelt daraus seine Theorie, dass es zwei Sorten von mündlicher Tradition in der Urgemeinde gab: die kontextparallele, weitgehend narrative Tripeltradition und die flexible, hauptsächlich didaktische Zweiertradition.120
[Top]
3.2.3 Wortlaut
3.2.3.1 Die Höhe der Wortlautübereinstimmungen
Linnemann hat in ihrem Buch die durchschnittliche
Höhe der Wortlautübereinstimmungen sowie der Wortlautunterschiede
berechnet. In dem "sinnvoll zu untersuchenden" Stoff der Tripeltradition
finden sich folgende Übereinstimmungen im Wortlaut: Mt/Mk/Lk 1420
Wörter (22,01%), Mt/Lk 1767 Wörter (27,39%), Mt/Mk 2698 Wörter
(41,83%) und Mk/Lk 2220 Wörter (34,42%).121 Andererseits
lassen sich nach Linnemann in der Tripeltradition durchschnittliche Wortlautunterschiede
von 95,34% bei Mt/Mk und 100,48% bei Mk/Lk feststellen.122 In
Q (Mt: 4319 Wörter; Lk: 4253 Wörter) hat Linnemann in einer späteren
Untersuchung 1792 (d.h. 41,49% bzgl. Mt und 42,13% bzgl. Lk) gleiche Wörter
gezählt.123
Sie folgert aus ihren Beobachtungen: "Das sind keine
Befunde, die für literarische Abhängigkeit sprechen."124
Denn bei redaktioneller Tätigkeit sei - angesichts der Tatsache, dass
man Fakten vermitteln wollte - eine Wortlautübereinstimmung von 80-90%
zu erwar-
118 Ebd., S. 1770-1775;
Reicke, Roots, S. 24-30.
119 Reicke, "Entstehungsverhältnisse",
S. 1773. Vgl. ebd.: "Nur bei der Annahme von frei zirkulierenden, nicht
geordneten Traditionen, aus denen Matthäus und Lukas nach Bedarf größere
und kleinere Einheiten übernahmen, erklärt sich die offenbar
konstitutive Flexibilität der Zweiertradition."
120 Vgl. Reicke, Roots,
S. 56-65.
121 Angaben nach Linnemann,
Synoptisches
Problem?, S. 122f. Die Prozentzahlen sind auf die 6450 Markuswörter
in diesen untersuchten 66 Perikopen der Tripeltradition bezogen. In die
Zahlen von Mt/Lk, Mt/Mk, Mk/Lk sind auch jeweils die Wortlautübereinstimmungen
zwischen allen drei Synoptikern integriert.
122 Ebd., S. 111f. Die
Prozentangaben beziehen sich auf 3945 Markuswörter in 38 analysierten
Perikopen der Dreiertradition, die Linnemann in einem ersten Durchgang
analysierte, aber auf 66 Perikopen nicht allzusehr abweichen dürften
(vgl. die nur geringfügigen Prozentveränderungen bei den Übereinstimmungen
im zweiten Durchgang, S. 123).
123 Linnemann, Bibelkritik,
S. 22.
124 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 142.
ten.125 Die vorhandenen Übereinstimmungen von 30-40%
werden von Linnemann durch denselben Inhalt und mit einer sprachlichen
Fixierung des Ereignisses126 auf aramäisch erklärt,
wobei auch "Angleichungen" durch Austausch von Erinnerungen nach der Himmelfahrt
berücksichtigt werden müssten.127 Reicke dagegen geht
mehr von einer durch ständige Wiederholung geformten mündlichen
Tradition aus, um die Wortlautübereinstimmungen plausibel zu machen.128
In diesem Zusammenhang könnte sich auch die
Experimentalpsychologie als hilfreich erweisen. Baum hat unter Hinweis
auf ein Gedächtnisexperiment von Hunt / Love exemplarisch gezeigt,
dass selbst eine 50%ige Wortlautübereinstimmung keine literarische
Abhängigkeit erfordere, sondern durch Gedächtnisleistung erklärt
werden könne.129
3.2.3.2 Das Vorkommen hoher Wortlautübereinstimmungen
Der Hinweis auf besonders hohe Wortlautübereinstimmungen
gilt als wichtiges Argument gegen die TH. Um diese Übereinstimmungen
zu erklären, haben Vertreter der TH verschiedene Ansätze gewählt
(die sich auch miteinander kombinieren lassen):
a) Die hohen Übereinstimmungen sind durch häufiges
Wiederholen der Geschichten zustande gekommen. Nach Reicke ist auch die
von der Formgeschichte beobachtete Stilisierung ein Anzeichen für
wiederholte Predigten. "Gegenstand der Sammlungen der Evangelisten waren
also Traditionen, die sich im Rahmen der Predigt und Lehre der Gemeinden
zu relativ stilisierten Perikopen entwickelt hatten."130
b) Für viele ist es - im Anschluss an Gerhardsson131
- wahrscheinlich, dass die Jünger
125 Ebd., S. 100f., Fußn.
60. Vgl. besonders S. 100: "Wenn ein Berichterstatter Quellen benutzt,
weil er nicht aus eigener Kenntnis als Zeuge der Ereignisse berichten kann,
dann ist nicht damit zu rechnen, daß er seine Vorlagen ändert,
weil er sich damit von den historischen Ereignissen entfernt, deren Kenntnis
ihm nur durch die Quelle zugänglich ist."
126 Damit meint Linnemann
anscheinend, dass man beim erstmaligen Erzählen eines Ereignisses
bestimmte Aspekte hervorhebt und Formulierungen festlegt, die sich bei
späterer Wiedergabe nicht wesentlich verändern. Weil die Augenzeugen
den gleichen soziokulturellen Hintergrund besitzen, hätten sie beim
Erzählen ähnliche Aspekte betont und Formulierungen gewählt
(vgl. die Grafik auf S. 151).
127 Ebd., S. 149, 152.
128 Vgl. Reicke, "Entstehungsverhältnisse",
S. 1776f.
129 Armin D. Baum, "Experimentalpsychologische
Erwägungen zur synoptischen Frage", Biblische Zeitschrift 44
(2000), S. 37-55, hier S. 48.
130 Reicke, "Entstehungsverhältnisse",
S. 1777.
131 Birger Gerhardsson,
Memory
and Manuscript: Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism
and Early Christianity, Acta Seminarii Neotestamentici Upsaliensis
22, Uppsala: Almqvist & Wiksells, 1961.
Jesusworte bewusst auswendig gelernt haben.132 Darauf weist
auch eine weitgehend poetische Formung der Jesusworte hin.133
Dadurch kommt es hier in geringerem Maß zu Variationen.
c) Teilweise wird auch angenommen, dass einzelne
schriftliche Notizen in Umlauf waren.134 Notizen lagen demnach
wohl dort vor, wo die Wortlautübereinstimmung ausgesprochen hoch ist.135
Im Unterschied zur Diegesenhypothese spielt die mündliche Tradition
allgemein aber immer noch eine wichtige Rolle.
d) Schließlich wird darauf hingewiesen, dass
völlige Übereinstimmungen nur auf sehr kurze Textpassagen beschränkt
seien. Linnemann meint, dass die Wortlautübereinstimmung "kaum über
einen ganzen Vers, nie über eine ganze Perikope und schon gar nicht
über größere Abschnitte der Evangelien" reiche.136
3.2.3.3 Das Vorkommen niedriger Wortlautübereinstimmungen
Bei gemeinsamen Textpassagen mit niedriger Wortlautübereinstimmung
ist die Zweiquellentheorie in Erklärungsnot. Wenham unterscheidet
gemeinsame Mk/Lk-Perikopen von "common origin" von denjenigen mit "no signs
of common origin", die auch vom Sinn her abweichen.137 Auch
Riesner138 führt solche Beispiele an, die nach seiner Meinung
besser auf unabhängige mündliche Überlieferung zurückgeführt
werden sollten. Das mündliche "Sondergut" des Mt und des Lk hat dann
inhaltliche Überschneidungen mit Mk, was wohl nicht unwahrscheinlich
ist. Damit werden aber die einst klaren Zuordnungen der Zweiquellentheorie
immer unsicherer (vgl. kleinere Überhänge und Overlap Texts Mk/Q).
Ähnlich liegt die Frage bei (in Wortlaut und
Sinn) sehr unterschiedlichen Q-Texten. Entweder man begreift sie als mündliche
Überlieferung, was Wenham tut,139 oder man muss
132 Z.B. Riesner, Lehrer,
S. 440-453; Dyer, "Do the Synoptics Depend", S. 243f.; van den Brink, "Onafhankelijkheid",
S. 79f.
133 Riesner, Lehrer,
S. 392-404; Riesner, "Ursprung", S. 507; van den Brink, "Onafhankelijkheid",
S. 80.
134 Z.B. Riesner, Lehrer,
S. 491-498; Hörster, Einleitung, S. 22-24; van den Brink geht
ebenfalls von "geschreven Griekse teksten" aus ("Onafhankelijkheid", S.
80).
135 Vgl. Dearing, "Synoptic
Problem", S. 133-136.
136 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 142.
137 Wenham, Redating,
S. 11, 19-28, 28-39, besonders S. 39.
138 Riesner, "Wie sicher?",
S. 69. Linnemann, Synoptisches Problem?, S. 122 listet Passagen
auf, die "auf den ersten Blick mangelnde Parallelität erkennen lassen",
aber sie verwendet sie nicht als Argument gegen die Zweiquellentheorie.
139 Für unterschiedliche
Mt/Lk-Fassungen von Q schlägt Wenham wiederholte Predigten Jesu mit
ähnlichem Inhalt vor (Redating, S. 76f.). Nach Reickes Theorie
würden diese Abweichungen eher auf unterschiedliche Versionen der
mündlichen Tradition zurückgehen.
die Existenz verschiedener Q-Rezensionen annehmen, wie es in neueren deutschen Standardwerken geschieht.140
3.2.3.4 Die Unterschiedlichkeit der Wortlautübereinstimmungen
Wenn man die einzelnen Perikopen der Tripeltradition
nacheinander untersucht, bemerkt man eine ausgesprochen wechselnde Höhe
von Wortlautübereinstimmungen.141 Mt und Lk hätten
also in sehr unterschiedlichem Ausmaß in den Mk-Text eingegriffen.
Rist bemerkt bei seiner Prüfung einer literarischen Abhängigkeit:
"If we suppose that Matthew depends on Mark, we have to account for substantial
differences in the quality of his abbreviating."142 Ist dies
wirklich redaktionell erklärbar, oder müsste redaktionelle Arbeit
wie z.B. Austausch, Auslassung oder Umstellung von Wörtern nicht gleichmäßiger
vorgenommen worden sein?
Nach der TH müssten diejenigen Perikopen eine
hohe Wortlautübereinstimmung haben, die besonders wichtig erscheinen
und oft erzählt worden sind. Darauf weist Reicke hin, indem er Gieseler
zitiert.143 Die Variabilität der Wortlautübereinstimmungen
kann nach Baum durchaus auf menschliche Gedächtnistätigkeit zurückgeführt
werden.144 Auch innerhalb der Perikopen sind die Übereinstimmungen
unterschiedlich. Z.B. haben die Jesusworte eine weitaus höhere Wortlautübereinstimmung
als die narrativen Teile des Textes.145 Dies zeigt, dass auch
innerhalb der Texte diejenigen Sätze sehr wörtlich behalten wurden,
die man für wichtig und sinntragend hielt.146 Dearing beschreibt
dies kurz anhand der Perikope vom Hauptmann von Kapernaum und verweist
auf unsere Alltagserfahrung, dass
140 Georg Strecker, Literaturgeschichte
des Neuen Testaments, UTB 1682, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,
1992, S. 152; Schnelle, Einleitung, S. 189f., 200.
141 Vgl. Morgenthaler,
Statistische
Synopse, S. 239-243, der die Perikopen dort schon nach der Höhe
der Wortlautübereinstimmung sortiert hat.
142 Rist, Independence,
S. 32.
143 Vgl. die Aussage Gieselers
(zitiert nach Reicke, "Entstehungsverhältnisse", S. 1764): "Durch
nichts läßt es sich so bequem als durch die Annahme einer gemeinsamen
mündlichen Quelle erklären, wie es gekommen ist, daß die
Erzählungen, je wichtiger sie den Schülern scheinen mußten,
desto übereinstimmender vorgetragen werden. Natürlich wurden
diese am häufigsten vorgetragen, und ihre ursprüngliche Form
erhielt sich also durch die öftere Wiederholung reiner, als die der
übrigen Erzählungen, von denen mehr die Materie als die Form
in dem Gedächtnisse der Einzelnen bewahrt wurde."
144 Baum, "Experimentalpsychologische
Erwägungen", S. 48-51.
145 Linnemann, Synoptisches
Problem?,
S. 141 spricht von einer "annähernd 80-prozentige(n) sprachliche(n)
Übereinstimmung in den Jesusworten" (vgl. S. 99).
146 Vgl. dazu wieder Gieseler
(nach Reicke, "Entstehungsverhältnisse", S. 1794): "... Daß
aber auch in diesen mehr oder weniger die a u f f a l l e n d e n
Ausdrücke gleich sind, während vor und nach denselben in Synonymen
variiert wird, mußte auch die natürliche Folge eines mündlichen
Typus sein."
man beim Erzählen von Witzen einen gewissen Teil wörtlich wiedergeben muss.147
3.2.3.5 Gemeinsamer Wortschatz
Wenn eine literarische Abhängigkeit vorläge,
dann müsste dies nach Linnemann auch in einem auffallend gemeinsamen
Vokabular zu erkennen sein.148 Bei ihrer Untersuchung des Wortschatzes
stellt sie fest, dass 13,68% des Markusvokabulars weder bei Mt noch bei
Lk und 835 Wörter (65,08%) bei allen drei Evangelisten auftreten.
Nach Eliminierung aller häufigen NT-Wörter, aller nicht gleichgewichtig
vorkommenden Wörter, der Ortsnamen, der Wörtern in Jesuslogien
und Schriftzitaten usw. bleiben nur noch drei Wörter übrig. Darüber
hinaus hätten Mt und Mk 28 und Lk und Mk zehn "relevante" Wörter
gemeinsam. Mit diesen wenigen Wörtern kann man laut Linnemann keine
literarische Abhängigkeit begründen.149
3.2.3.6 Minor Agreements
Die Minor Agreements sind eins der beliebtesten
Argumente der TH gegen die (klassische) Zweiquellentheorie. Linnemann zählt
347 Wortlautübereinstimmungen von Mt/Lk gegen Mk (5,38%).150
Insgesamt ist wegen gleicher Auslassungen, gleicher Wortverschiebungen
usw. mit mehr Minor Agreements zu rechnen; Ennulat meint, er habe "etwa
1000" untersucht.151 Als Argument gegen die Zweiquellentheorie
wird dieses Phänomen z.B. von Linnemann, Riesner und Mauerhofer genannt.152
Die Existenz von Dmk, mit dem man die Minor Agreements zu erklären
versucht, wird von Linnemann als unwahrscheinlich angesehen.153
147 Dearing, "Synoptic Problem",
S. 132f.: "Part of the narrative is 'free,' so to speak, but part is 'bound.'
The teller must remember the bound part nearly word-for-word or he will
spoil the joke."
148 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 125.
149 Ebd., S. 132.
150 Ebd., S. 123. Die Prozentzahl
ist bezogen auf die 6450 Markuswörter in den untersuchten Perikopen
der Tripeltradition.
151 Andreas Ennulat, Die
"Minor Agreements": Untersuchung zu einer offenen Frage des synoptischen
Problems, Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament II/62,
Tübingen: Mohr, 1994, S. 417. Interessanterweise beobachtet er in
den Doppelüberlieferungstexten Mk/Q eine signifikant höhere Anzahl
von Minor Agreements, die eine Traditionsmischung nahelege (S. 18, 23).
Vgl. zur Diskussion um die Minor Agreements auch: Minor Agreements:
Symposium Göttingen 1991, Hg. Georg Strecker, Göttinger Theologische
Arbeiten 50, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993 und The
Minor Agreements of Matthew and Luke Against Mark, with a Cumulative List,
Hg. Frans Neirynck, Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium
37, Leuven: UP, 1974.
152 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 143; Riesner, "Wie sicher?", S. 61-64, 68, 71; Mauerhofer,
Einleitung,
Bd. 1, S. 201. Vgl. auch Stoldt, Markushypothese, S. 22-26.
153 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 52f.
3.2.3.7 Unerklärbare Redaktion
Ebenfalls ein sehr häufiges Argument der TH
gegen die Zweiquellentheorie sind Stellen, an denen die Unterschiede zwischen
den Evangelien nicht durch redaktionelle Bearbeitung durch Mt und Lk erklärbar
sind. Besonders Rist154 kommt in seinen Analysen immer wieder
zu dem Ergebnis, dass "if Matthew were basing himself on Mark, his abridgement
is poorly done" (S. 28), "(t)his is not the only passage in which the price
paid for the thesis that Matthew depends on Mark is the conviction of Matthew
for incompetent work" (S. 32), "(s)ometimes the theory that Matthew depends
on Mark entails extraordinary carelessness on the part of Matthew" (S.
62) usw. Für eine Benutzung des MtEv durch Mk findet Rist genauso
wenig Anhaltspunkte (S. 55, 62). Wenham macht Mk/Lk-Passagen ausfindig,
die seiner Meinung nach voneinander unabhängig sein müssen, weil
sie zu verschieden sind.155 Riesner durchforscht ebenfalls eine
Reihe von Texten und beobachtet, dass eine redaktionelle Bearbeitung "kaum
zur Erklärung ausreicht".156 Dyer formuliert sehr anschaulich,
"that the writers would have had to perform literary gymnastics with their
sources".157 Linnemann beklagt, dass man von Seiten der Zweiquellentheorie
an diesem Punkt "keine Falsifikation zuläßt".158
Aufschlussreich ist hier die Dissertation von E.P.
Sanders über The Tendencies of the Synoptic Tradition. Nach
Sanders zeigen die verschiedenen untersuchten Kriterien keine Tendenz,
die eindeutig für eine Priorität eines Evangelisten sprechen
könnte.159 Sein Buch bzw. sein Anhang "Suggested Exceptions
to the Priority of Mark"160 wird natürlich gerne von Vertretern
der Griesbachhypothese161 und der TH162 aufgegriffen.
Aufgrund dieser Uneindeutigkeit finden eben auch Befürworter der Griesbachhypothese
Stellen, die sie für ihre Meinung, dass Mk das MtEv benutzte, in Anspruch
nehmen können. Allerdings ver-
154 Die folgenden Seitenzahlen
beziehen sich auf Rist, Independence.
155 Wenham, Redating,
S. 28-39.
156 Riesner, "Wie sicher?",
S. 60-72, hier S. 69.
157 Dyer, "Do the Synoptics
Depend", S. 242.
158 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 57.
159 Sanders, Tendencies,
S. 272: "There are no hard and fast laws of the development of the Synoptic
tradition. On all counts the tradition developed in opposite directions.
It became both longer and shorter, both more and less detailed, and both
more and less Semitic. ... For this reason, dogmatic statements that
a certain characteristic proves a certain passage to be earlier than another
are never justified" (kursiv im Original).
160 Sanders, Tendencies,
S. 290-293.
161 Ein Nachdruck dieses
Anhangs ist in einem Sammelband der Griesbachhypothese zu finden: E. P.
Sanders, "Suggested Exceptions to the Priority of Mark", The Two-Source
Hypothesis: A Critical Appraisal, Hg. Arthur J. Bellinzoni Jr., Macon:
Mercer UP, 1985, S. 199-203.
162 Vgl. Rist, Independence,
S. 12, 56.
sucht Goodacre schwache redaktionelle Leistungen bei Mt und Lk plausibel
zu machen, indem dem er an einigen Stellen Unaufmerksamkeit bei ihnen vermutet.163
Crook hat die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig
daraufhin untersucht, welche der drei z. Zt. einflussreicheren Benutzungshypothesen
sie am ehesten unterstützen.164 Er kommt zu dem Ergebnis,
dass die Zweiquellentheorie eine redaktionelle Bearbeitung am besten erklären
kann, aber selbst auch nicht ohne Schwierigkeiten ist.165 Engelbrecht,
der die griesbachschen Mk-Kommentare von Mann und Riley analysiert, urteilt,
dass sie mehr Probleme offen ließen als die Zweiquellentheorie.166
So ist heute wohl deutlich, dass die Zweiquellentheorie unter den Benutzungshypothesen
viel für sich hat, aber unbestritten einige Redaktionstätigkeiten
unerklärt bleiben.
Im Rahmen der TH stellen diese Phänomene keine
Schwierigkeit dar. Wenn mal diese zwei Evangelien ähnlich sind, mal
andere, so weist diese "zigzag structure" auf die jeweilige mündliche
Tradition hin, die dem Evangelisten verfügbar war.167 Gewisse
Unterschiede wie Verwendung von Synonymen, kleinere Auslassungen von Namen
und Details, Wort- und Satzumstellungen können problemlos auf die
Charakteristik der Erinnerung zurückgeführt werden.168
Außerdem wird von Vertretern der TH auf antike
Vergleichstexte aufmerksam gemacht:
a) Abweichungen und wörtliche Übereinstimmungen
wie in den Evangelien kommen auch in den mündlich überlieferten
Targumen vor. - Van den Brink169 verweist hier auf eine Untersuchung
von Chilton170. Auch dieser äußert sich unzufrieden
mit Benutzungshypo-
163 Mark S. Goodacre, "Fatigue
in the Synoptics", New Testament Studies 44 (1998), S. 45-58. Goodacre
ist Anhänger der Farrer-Goulder-Hypothese, die sich im Gegensatz zur
Zweiquellentheorie von Q verabschiedet hat.
164 Zeba Antonin Crook,
"The Synoptic Parables of the Mustard Seed and the Leaven: A Test-Case
for the Two-Document, Two-Gospel and Farrer-Goulder Hypotheses", Journal
for the Study of the New Testament 78 (2000), S. 23-48. Die Farrerhypothese
wird besonders in Großbritannien vertreten, die Griesbachhypothese
in den USA.
165 "Not one of them was
able to account for all the data equally well; some encountered problems
dealing with specific words, others with presenting coherent redactional
procedures. ... It might be a sad state of affairs that we need to accept
as the better answer the one that fails the fewest times, but this is the
current state of the synoptic problem." Crook fügt hinzu, dass die
Zweiquellentheorie mit den beiden untersuchten Perikopen jedenfalls "in
the least problematic manner" zurechtkomme (Ebd., S. 47).
166 J. Engelbrecht, "Challenging
the two-source hypothesis: how successful are the commentaries", Neotestamentica
30 (1996), S. 89-101, hier S. 98f.
167 Vgl. Reicke, Roots,
S. 29f.; Reicke, "Entstehungsverhältnisse", S. 1775.
168 Vgl. Baum, "Experimentalpsychologische
Erwägungen", S. 39, 42f., 54.
169 Van den Brink, "Onafhankelijkheid",
S. 79f.
170 Bruce Chilton, "Targumic
Transmission and Dominical Tradition", Gospel Perspectives: Studies
of History and Tradition in the Four Gospels, Hg. R. T. France / David
Wenham, Bd. 1, 1980, 2. Aufl. Sheffield: JSOT, 1983, S. 21-45.
thesen: "Literal agreement and frustrating variety in diction pose a
major difficulty to theories of documentary dependence."171
Um dafür eine Erklärung anzubieten, vergleicht Chilton synoptische
Parallelperikopen mit untereinander parallelen Targumtexten und prüft
die Art der jeweiligen Abweichungen. Wie er feststellt, sind die Analogien
allerdings nicht immer perfekt.172 Chilton stellt darum den
Unterschied heraus, dass die Targume auf schriftliche Texte bezogen seien,
die Evangelien dagegen auf eine Person, und spricht bewusst nur von "Analogien",
nicht von "Parallelen".173
b) Bei den Synoptikern wird eine sehr komplexe Redaktionstätigkeit
vorausgesetzt, während selbst bekannte Schriftsteller der Antike nur
eine recht simple redaktionelle Bearbeitung vornahmen. - Wenham174
bezieht sich dabei auf einen Artikel von Downing im Journal of Biblical
Literature175. Dort weist Downing anhand verschiedener Beispiele
nach, dass redaktionelle Arbeit in der Antike recht einfach ablief. "We
can tell on the basis of many examples of practice and some indications
of theory: even the most highly literate and sophisticated writers employ
relatively simple approaches to their 'sources.'" Eine Verschmelzung von
Quellen war selten: "Conflation was itself only rarely attempted, and then
very simply effected."176 Außerdem teilte ein antiker
Schreiber seine Quellen normalerweise nicht in ihre Bestandteile auf. Livius
hat immerhin Abschnitte aus Polybius, die er paraphrasierte, mit Blöcken
aus seiner römischen Quelle abgewechselt, aber "such conflation as
this is rare and ... clearly unsuccessful".177 Anschließend
untersucht Downing die redaktionelle Arbeit bei Plutarch und Josephus.
- Downing setzt eine literarische Abhängigkeit der Evangelien voraus178
und will mit seinem Artikel die Zweiquellentheorie gegenüber der Farrer-
und der Griesbachhypothese, die beide ein noch höheres Maß an
"conflation" bei den redigierenden Evangelisten annehmen, als wahrscheinlicher
erweisen. Wenham jedoch meint, Downings Material würde auch die Zweiquellentheorie
nicht gerade unter-
171 Ebd., S. 32.
172 Ebd., S. 35.
173 Ebd., S. 36. Chilton
selbst scheint mir hier etwas zurückhaltender zu sein als van den
Brink, der sich auf ihn beruft.
174 Wenham, Redating,
S. 206f.
175 F. Gerald Downing,
"Compositional Conventions and the Synoptic Problem", Journal of Biblical
Literature 107 (1988), S. 69-85.
176 Beide Zitate ebd.,
S. 70.
177 Ebd., S. 71.
178 Das betont er ausdrücklich
gleich zu Anfang (ebd., S. 69). Ihm geht es hier nur um den Vergleich dieser
drei Theorien.
stützen: "... his evidence in fact argues for even less literary dependence than he admits."179
[Top]
Ein historisches Erklärungsmodell wie die TH (und auch die Zweiquellentheorie) muss zum einen möglichst viele Phänomene erklären können (3.2) und zum anderen auch historisch plausibel sein. Letzteres wird nun in diesem Teil der Argumentation erörtert.
3.3.1 Die Bedeutung der apostolischen Lehre
in der Urgemeinde
Heute wird mehrheitlich wieder angenommen, dass
es einen Zwölferkreis um Jesus gegeben hat.180 Es wäre
kaum verständlich, warum man sonst nachösterlich die Zwölf
inklusive Verräter erdichtet hätte; außerdem taucht diese
Zwölfergruppe auch bei Paulus in 1Kor 15,5 auf. In der Apg wird erzählt,
dass für Judas ein Apostel nachgewählt wurde, während dies
später beim Tod des Jakobus (Apg 12) nicht mehr geschah. Nicht zuletzt
werden die Zwölf auch in alten Evangelientraditionen erwähnt
(Mt 10,2-4par).
Dieser Zwölferkreis wurde zum Träger der
Tradition, selbst wenn Jesus dies nicht beabsichtigt haben sollte. Sie
waren Zeugen des Wirkens Jesu und hörten seine Worte.181
Aber sehr wahrscheinlich hat Jesus ihnen tatsächlich auch bewusst
Dinge eingeprägt, so wie es im jüdischen Umfeld bei den Rabbinen
der Fall war.182 Nach Pfingsten waren sie darum in der Lage,
in der Urgemeinde authentische Jesustraditionen weiterzugeben. Dabei ist
anzunehmen, dass man auf sie gehört hat, denn in der Apg spielt die
"Lehre der Apostel" (z.B. 2,42 und die Predigten) eine wichtige Rolle.183
Diese Betonung der apostolischen Augenzeugen184 und ihrer Lehre
bei den frühen Christen ist zugleich ein Argument gegen
179 Wenham, Redating,
S. 207.
180 Riesner, Lehrer,
S. 483f.; auch die hier aufgeführten Argumente sind von ihm.
181 Ebd., S. 485.
182 Vgl. Gerhardsson, Memory;
Riesner, Lehrer und der Gerhardsson-Schüler Samuel Byrskog,
Jesus
the Only Teacher: Didactic Authority and Transmission in Ancient Israel,
Ancient Judaism and the Matthean Community, Coniectanea Biblica: New
Testament Series 24, Stockholm: Almqvist & Wiksells, 1994.
183 Zusätzliche Beobachtungen:
Außerdem betont Lk im Prolog die Augenzeugenschaft (1,2) und stellt
in Apg 1 heraus, dass der nachgewählte Apostel während der ganzen
Zeit des Wirkens Jesu dabei gewesen sein sollte. Auch den Kirchenvätern
ist die apostolische Herkunft der Evangelien wichtig gewesen. Vgl. die
Bedeutung der Apostel z.B. in Mt 28,16-20; Joh 14,26 und 2Petr 3,2.
184 Zu Augenzeugen in der
Urkirche vgl. Samuel Byrskog, Story as History - History as Story: The
Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History, Wissenschaftliche
Untersuchungen zum Neuen Testament 123, Tübingen: Mohr, 2000, S. 65-91.
Zur Bedeutung der Jünger für die Überlieferung vgl. Alfred
F. Zimmermann, Die urchristlichen Lehrer: Studien zum Tradentenkreis
der dida&skaloi im frühen Urchristentum,
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament II/12, Tübingen:
Mohr, 1984.
die klassische Formgeschichte. Riesner bemerkt, dass man eine "Vernachlässigung
der Personalkontinuität bei der Evangelien-Überlieferung" bei
ihr kritisierte.185 Anfragen an die klassische Formgeschichte
hat es nicht gerade selten gegeben.186
Linnemann wendet sich ebenfalls gegen die Existenz
von anonymen "isolierten Einzeltraditionen"; für sie steht stattdessen
die apostolische Erinnerung im Mittelpunkt.187 Für andere
Vertreter der TH ist eine Überlieferung durch die Apostel eine Selbstverständlichkeit,
die sie einfach voraussetzen. Bei einer Bildung der Geschichten in der
Urgemeinde ohne eine Autorität, die Konstanz gewährt,
müsste man dagegen sehr unterschiedliche Stoffauswahl, Stoffreihenfolge
und Wortlaut erwarten. Dieser Punkt ist also eine zentrale Vorbedingung
für die TH, denn nur durch eine gewisse (apostolische) Norm kann eine
Festigkeit der mündlichen Tradition möglich werden - ob die Apostel
nun auswendig gelernt, sich Notizen gemacht oder oft gepredigt haben oder
alle drei Dinge gemeinsam.
[Top]
3.3.2 Existenz einer mündlichen griechischen
Tradition
Vertreter der TH haben nachzuweisen, a) dass
eine Tradition vom Leben Jesu in der Urgemeinde überliefert wurde,
b) dass man diese Tradition auch griechisch weitergegeben hat. Wenham
und Reicke haben sich dazu geäußert.
a) Weil in den Briefen des NT kaum Jesusworte aufgegriffen
werden, hat man vermutet, dass es damals noch keine synoptische Tradition
gegeben haben kann. Wenham argumentiert darum in einem kurzen Kapitel für
die Existenz einer frühen Tradition vom Leben Jesu: 1) Eine Dissertation
von M. B. Thompson habe anhand von Röm 12,1-15,13 gezeigt, dass auch
Paulus einen Großteil der Jesusüberlieferung gekannt habe und
solche Kenntnisse auch bei den einfachen Gemeindemitgliedern voraussetze.
2) Lk habe in der Apg die Jesusworte auch nicht wieder aufgegriffen. 3)
In den ersten zwei Generationen habe man die "living voice" vorgezogen
und sich dann wohl kaum auf Schriftliches berufen (vgl. 3.3.5).
185 Riesner, Lehrer,
S. 20. Vgl. Birger Gerhardsson, Die Anfänge der Evangelientradition,
Wuppertal: Brockhaus, 1977, S. 42-47.
186 Vgl. z.B. Erhardt Güttgemanns,
Offene
Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums: Eine methodologische Skizze
der Grundlagenproblematik der Form- und Redaktionsgeschichte, Beiträge
zur evangelischen Theologie 54, 1970, 2., verbess. Aufl. München:
Kaiser, 1971; Walter Schmithals, "Kritik der Formkritik",
Zeitschrift
für Theologie und Kirche 77 (1980), S. 149-185; ders., "Vom Ursprung
der synoptischen Tradition", Zeitschrift für Theologie und Kirche
94 (1997), S. 288-316; Riesner, Lehrer, S. 6-18; Helge Stadelmann,
"Die Entstehung der synoptischen Evangelien: Eine Auseinandersetzung mit
der formgeschichtlichen Synoptikerkritik",
Bibel und Gemeinde 77
(1977), S. 46-67; Klaus Haacker, Neutestamentliche Wissenschaft: Eine
Einführung in Fragestellungen und Methoden, 1981, 2., erw. Aufl.
Wuppertal: Brockhaus, 1985, S. 48-63; E. Earle Ellis,
The Making of
the New Testament Documents, Biblical Interpretation Series 39, Leiden:
Brill, 1999, S. 19-27.
187 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 163, 167-173.
4) Man habe die Evangelien noch nicht allgemein verfügbar gehabt
und ein Zitat kaum nachprüfen können. 5) Außerdem habe
es eine gewisse Zeit gedauert, bis man die Evangelien regelmäßig
im Gottesdienst vorlas (vgl. 2.2.4).188
b) Nach Reicke haben die Apostel einerseits einen
Gesamtaufriss des Lebens Jesu weitergegeben, andererseits einzelne didaktische
Stoffe je nach aktuellem Anlass. Diese Traditionen seien schon bald ins
Griechische übersetzt worden, weil in Jerusalem und Judäa das
Griechische von großer Bedeutung war: Viele Einwohner Palästinas
sind zweisprachig gewesen, wie es die Qumranbibliothek und die Barkochbabriefe
zeigen; in Jerusalem hielten sich viele griechischsprachige Juden auf (Joh
12,20; Apg 2,9f.; 6,9; 7,58; 9,29; Synagogeninschrift von Theodotus auf
dem Berg Ophel). Außerdem gab es in der Urgemeinde griechischsprachige
Gläubige und Hellenisten (Apg 4,36; 6,1.5; 12,12; 15,22).189
In diesem Kreis der Gläubigen wurde die aramäische Predigt ins
Griechische übersetzt. Der griechische Wortlaut von Mt, Mk und teilweise
von Lk sei von diesen mündlichen griechischen Überlieferungen
beeinflusst worden. Die beste Erklärung für die Übereinstimmungen
"is found in the public activity of preachers and teachers in the Jerusalem
church, where Aramaic and Greek were used in alternation."190
[Top]
3.3.3 Die Festigkeit der mündlichen griechischen
Tradition
Von Befürwortern der TH werden drei Ansätze
(auch in Kombination miteinander) vorgetragen, um eine Festigkeit der mündlichen
Tradition wahrscheinlich zu machen: a) dass das Auswendiglernen der Worte
Jesu eine wichtige Rolle spielte; b) dass man sich früh Notizen machte
und diese Notizen beim Predigen oder bei der Niederschrift der Evangelien
verwendete; c) dass die in den Evangelien zu beobachtende Stilisierung
der Geschichten auf häufige Wiederholung hinweise.
188 Wenham, Redating,
S. 217-222. Weitere Argumente bei Gerhardsson, Anfänge, S.
25-31.
189 Reicke, Roots,
S. 50f.; vgl. Reicke, "Entstehungsverhältnisse", S. 1777.
190 Reicke, Roots,
S. 50. - Auch Linnemann, Synoptisches Problem?, S. 152f. nennt Argumente
für Ähnlichkeiten im griechischen Wortlaut: 1) Die "Sprachstrukturen
des aramäischen Originals" seien für einige Übereinstimmungen
verantwortlich. 2) Mk und der Übersetzer des MtEv seien aramäische
Muttersprachler gewesen, Übersetzungsgriechisch führe aber zu
gemeinsamen Formulierungen. Auch bei Lk könne man "nicht ausschließen,
daß die aramäischen Formulierungen der ... Augenzeugenberichte
in seiner griechischen Fassung durchschlugen." 3) Der gemeinsame Gebrauch
der Septuaginta in christlichen Gemeinden habe zu sprachlichen Anpassungen
geführt. 4) Durch Verbindungen der Gemeinden untereinander sei bald
ein allgemeiner christlicher Grundwortschatz entstanden.
3.3.3.1 Memorieren
An dieser Stelle gab es bereits viele Forschungen
und Diskussionen, und Vertreter der TH haben das mögliche Memorieren
von Jesusworten gerne als Argument gebraucht. Aufgrund der rabbinischen
Parallelen sei es wahrscheinlich, dass auch Jesu Jünger dessen Worte
auswendig gelernt haben. Wichtige Impulse dazu kamen besonders von Riesenfeld191
und Gerhardsson192. Riesner, der sich von Gerhardsson anregen
ließ,193 führte dessen Ansatz in seiner Dissertation
weiter aus.194 Auch Byrskog steht in der Gerhardsson-Tradition.195
Auf ein Auswendiglernen der Jesusworte durch die Jünger, was keineswegs
unwidersprochen geblieben ist196, berufen sich (als Argument
für die TH) Dearing, Dyer, van den Brink und Mauerhofer.197
Rist macht Einschränkungen,198 und Linnemann will diese
Frage ganz offenlassen.199
191 Harald Riesenfeld, The
Gospel Tradition and its Beginnings: A Study in the Limits of 'Formgeschichte',
London: Mowbray, 1957, hier S. 17-25. Riesner, "Jüdische Elementarbildung",
S. 209 macht auf Vorläufer aufmerksam.
192 Gerhardsson, Memory;
vgl. ders., Tradition and Transmission in Early Christianity, Coniectanea
Neotestamentica 20, Lund: Gleerup, 1964, wo Gerhardsson auf Einwände
von M. Smith eingeht; ders., Anfänge, S. 16-18; ders., "Der
Weg der Evangelientradition", Das Evangelium und die Evangelien: Vorträge
vom Tübinger Symposion 1982, Hg. Peter Stuhlmacher, Wissenschaftliche
Untersuchungen zum Neuen Testament I/28, Tübingen: Mohr, 1983, S.
79-102, hier S. 89-91; ders., The Gospel Tradition, Coniectanea
Biblica: New Testament Series 15, Lund: Gleerup, 1986, S. 39. Ähnlich
auch I. C. M. Fairweather, "Two Different Pedagogical Methods in the Period
of Oral Transmission", Studia Evangelica, Bd. 6, Hg. Elizabeth A.
Livingstone, Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen
Literatur 112, Berlin: Akademie-Verlag, 1973, S. 100-108.
Siehe außerdem Zimmermann, Lehrer, S. 12-35
zur Diskussion um Riesenfeld und Gerhardsson sowie Peter H. Davids, "The
Gospels and Jewish Tradition: Twenty Years After Gerhardsson", Gospel
Perspectives: Studies of History and Tradition in the Four Gospels,
Hg. R. T. France / David Wenham, Bd. 1, 1980, 2. Aufl. Sheffield: JSOT,
1983, S. 75-99, der gegenüber Gerhardsson auch schriftliche Notizen
betont.
193 Vorwort in Riesner,
Lehrer,
S. IV.
194 Riesner, Lehrer.
Vgl. Riesner, "Jüdische Elementarbildung" und seine Kurzfassung der
Dissertation in der Theologischen Zeitschrift: "Jesus-Überlieferung".
195 Byrskog, Only Teacher.
196 Vgl. nur den Einwand
gegen Riesner bei Lindemann, "Literaturbericht 1978-1983", S. 231f. und
die Antwort Riesners in Lehrer, S. 503-505 sowie Zimmermann, Lehrer,
S. 12-35 und die Literaturangaben in Gerhardsson, Anfänge,
S. 66.
197 Dearing, "Synoptic
Problem", S. 131; Dyer, "Do the Synoptics Depend", S. 243; van den Brink,
"Onafhankelijkheid", S. 78-80; Mauerhofer, Einleitung, Bd. 1, S.
208f.
198 Rist, Independence,
S. 100: "It is hard to believe that they did not treasure them in as exact
a form as possible - though that is not to suggest, as some have done,
that Jesus actually coached them in verbal precision."
199 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 171. Wenham ist skeptischer. Er hält es für
unwahrscheinlich, dass man die Reihenfolge der Geschichten auswendig lernte,
weil man sich nicht konsequent daran hielt (Redating, S. 7).
3.3.3.2 Möglichkeit von Notizen
Als zweite Erklärung für die Festigkeit
der mündlichen Tradition wird häufig darauf hingewiesen, dass
es sehr wahrscheinlich Notizen gegeben haben müsste. Riesner meint,
dass die "ortsfesten Anhänger" Jesu für Aufzeichnungen verantwortlich
sein könnten.200 Rist vermutet, dass die neutestamentlichen
Briefe wohl kaum das einzige waren, was damals von Christen aufgeschrieben
wurde. Es sei gut möglich, dass man eben auch andere Schriftstücke
abfasste, die teilweise für das Verlesen im Gottesdienst verwendet
wurden.201 Ähnlich äußert sich Wenham: "There
is no reason ... why notes of Jesus' teaching should not have been made
during the time of his ministry."202 Für Hörster spielen
die schriftlichen Aufzeichnungen eine wichtige Rolle, so dass er schon
mit der Diegesenhypothese sympathisiert.203 Auch Mauerhofer
geht von "notizenhafte(m) Festhalten der Reden und des Wirkens Jesu" aus.204
Van den Brink spricht ebenfalls von "geschreven Griekse teksten", die "een
goede verklaring geeft voor de vaak woordelijke overeenstemming van onze
Griekse evangeliën."205 Dearing nimmt für bestimmte
Passagen, die er genau benennt, eine gemeinsame schriftliche Quelle an.206
Selbst Reicke ist der Möglichkeit von Notizen nicht völlig abgeneigt.207
Linnemann hält Aufzeichnungen für möglich, will sich aber
(auch) an diesem Punkt nicht festlegen.208
Ein großer Teil der Vertreter der TH bejaht
also die Existenz von Notizen oder sogar den Gebrauch von einzelnen Diegesen
durch die Evangelisten.
200 Riesner, Lehrer,
S. 491-498, hier S. 491. Vgl. E. Earle Ellis, "New Directions in Form Criticism",
Jesus
Christus in Historie und Theologie: Neutestamentliche Festschrift für
Hans Conzelmann zum 60. Geburtstag, Hg. Georg Strecker, Tübingen:
Mohr, 1975, 299-315, der auf S. 304-309 eine reine "oral period" vor der
Verschriftung in den Evangelien in Frage stellt. Siehe auch Davids, "Gospels",
S. 79, 89f. und später Gerhardsson, "Weg der Evangelientradition",
S. 88 und (hier) S. 100: "Schriftliche Aufzeichnungen verschiedenen Umfangs
vom Typ Notizen, Gedächtnisstützen (u(pomnh&mata)
gab es aber sicherlich sehr früh im Urchristentum."
201 Rist, Independence,
S. 100.
202 Wenham, Redating,
S. 199. Vgl. S. 113f.
203 Hörster, Einleitung,
S. 24.
204 Mauerhofer, Einleitung,
Bd. 1, S. 208f.
205 Van den Brink, "Onafhankelijkheid",
S. 81.
206 Dearing, "Synoptic
Problem", S. 133-136.
207 Reicke meint, dass
"sporadische Aufzeichnungen dieser Traditionseinheiten nicht undenkbar
sind" ("Entstehungsverhältnisse", S. 1773). In den Evangelien sind
solche nach Reicke jedoch nicht erkennbar: "No fixed written sources are
distinguishable among the persistently changing and merging frequency types"
(Roots, S. 29).
208 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 171.
3.3.3.3 Stilisierung der Geschichten
Reicke209 verweist auf die Beobachtung
der Formgeschichte, dass "durch Predigt und Lehre" Einheiten ausgebildet
wurden, die regelmäßige Strukturen erkennen lassen und einzelnen
Gattungen zugeordnet werden können. Das bedeutet aber, dass diese
Geschichten durch vielfache Wiederholung zu dieser recht stilisierten
Form gelangt sind. Die Weitergabe geschah dabei durch die "ersten Augenzeugen
und ihre Mitarbeiter", die "schon in Jerusalem und dann auf dem Missionsfeld
ihre Berichte wiederholt vortragen" mussten. Reicke belegt das mit Apg
2,42; 1Kor 11,23; 15,3. Dabei hatten sich die Traditionen "im Rahmen der
Predigt und Lehre der Gemeinden zu relativ stilisierten Perikopen entwickelt".
Weil zu den Gemeinden griechischsprachige Christen gehörten (vgl.
3.3.2b) und deshalb ebenfalls in ihrer Sprache die Erzählungen weitergegeben
wurden, kam es auch im griechischen Wortlaut zu relativer Festigkeit. Gerade
die stilisierten Geschichten zeigen also, dass sich schon eine recht feste
mündliche griechische Tradition ausgebildet hatte.
Damit zu vergleichen sind die experimentalpsychologischen
Beobachtungen von Bartlett, die von Baum zusammengefasst werden:
"Nach einer wiederholten Wiedergabe der Geschichte
im Abstand von zwei, vier und acht Wochen kommt es zu einer Fixierung ihrer
allgemeinen Form sowie zahlreicher Formulierungen ... Einzelheiten unterliegen
innerhalb dieses stereotypen Rahmens jedoch weiterhin der Veränderung
... Die Elemente eines Textes, die einem speziellen Interesse der Versuchsperson
entsprechen, werden allerdings mit großer Sicherheit reproduziert".210
3.3.4 Die Fortdauer der festen mündlichen
Tradition bis zur Abfassung der Evangelien
Wahrscheinlich waren z. Zt. der Abfassung der Evangelien
noch Augenzeugen am Leben. Linnemann stellt heraus, dass die Apostel bis
in die 60er Jahre lebten, Johannes sogar noch länger.211
Jüngere, die vielleicht teilweise auch noch das Wirken Jesu erlebt
hatten, "haben das, was in der Autorität der Augenzeugenschaft vorgetragen
wurde, persönlich gehört." Angesichts der Menge der Jünger,
die die Erzählungen kannten, wäre es niemandem möglich gewesen,
die Augenzeugentradition "bis zur Unkenntlichkeit"
209 Für alles in diesem
Absatz Zusammengefasste: Reicke, "Entstehungsverhältnisse", S. 1776f.
Meines Wissens hat nur Reicke als Vertreter der TH dieses Argument erwähnt.
Vgl. aber auch Wikenhauser / Schmid, Einleitung, S. 277, die es
ebenfalls sehen.
210 Baum, "Experimentalpsychologische
Erwägungen", S. 39.
211 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 61. Bei Frühdatierungen der Evangelien wie bei Wenham
ist die apostolische Kontinuität natürlich erst recht gewahrt.
abzuändern.212
Selbst wenn man Apostel, Augenzeugen
und "Diener des Wortes" völlig beiseite ließe (was sicher nicht
gerechtfertigt ist), kann auch die Gemeinschaft eine feste mündliche
Tradition längerfristig überliefern: In einem Zeitschriftenartikel213
gibt Bailey, der sein Leben im Nahen Osten zugebracht hat, aus seiner eigenen
Erfahrung "concrete evidence as to how oral tradition actually functions
in a middle-eastern setting", weil man im Westen gerne annehme, dass mündliche
Tradition instabil sei. Neben "informal uncontrolled oral tradition" (vgl.
Bultmann; Gerüchte von einem Anschlag werden immer weiter dramatisiert)
und "formal controlled oral tradition" (vgl. Gerhardsson; lange Hymnen
oder der Koran werden wörtlich rezitiert) gebe es im Nahen Osten aber
auch noch ein drittes Phänomen, das Bailey "informal controlled oral
tradition" nennt.214 Abends treffen sich die Dorfbewohner, um
Geschichten zu erzählen, Gedichte zu rezitieren und anderes Traditionsmaterial
weiterzugeben. Diese Treffen heißen haflat samar. Das Traditionsgut
darf jeder weitergeben, der es beherrscht, und andere greifen auch verbessernd
ein. Eine Tradition wird hier also von der Gemeinschaft weitergegeben,
aber nahezu wörtlich. Bailey berichtet, dass er selbst erlebt habe,
dass die Ereignisse um einen Missionar in Ägypten im 19. Jahrhundert
mit ca. 90% wörtlicher Übereinstimmung von den Dorfbewohnern
wiedergegeben werden konnten (Bailey verglich ihre Erzählungen mit
Aufzeichnungen ihrer Tradition in einem Buch von 1914, von dem die Einwohner
nichts wussten).215
[Top]
3.3.5 Der Vorzug der mündlichen Tradition
(„viva vox")
Bereits am Lukasprolog wird es laut Reicke deutlich,
dass Lk wie auch die anderen dort erwähnten Autoren die "living tradition"
als gemeinsame Basis hatten. Außerdem hatte auch Papias in Eusebius,
h.
e. 3.39.15-16, berichtet, dass die Evangelisten mündliche
Berichte aufschrieben. Es sei überhaupt ein generelles Prinzip des
Papias gewesen, "that living traditions, called the vox viva, were always
more reliable than written documents" (vgl. Eusebius, h. e. 3.39.4).216
Baum hat bei diesem Papiaszitat angesichts möglicher kanongeschichtlicher
Implikationen präzisiert, dass Papias sicher nicht jede mündliche
Tradition bevorzugte, sondern nur wenn sie historisch zuverlässiger
als schriftliche Quellen war.217 Reicke weist außerdem
darauf hin, das auch Ignatius die mündliche Tradition betont
212 Ebd.
213 Kenneth E. Bailey,
"Informal controlled oral tradition and the Synoptic Gospels", Themelios
20 (1995), S. 4-11. Der Artikel ist ein Abdruck aus dem Asia Journal
of Theology 1991. Für eine Kurzfassung des Artikels vgl. ders.,
"Middle Eastern Oral Tradition and the Synoptic Gospels", Expository
Times 106 (1995), S. 363-367.
214 Bailey, „Informal controlled",
S. 6.
215 Bailey, "Middle Eastern",
S. 366; vgl. Bailey, "Informal controlled", S. 8f.
216 Reicke, Roots,
S. 47. Vgl. Papias bei Eusebius, h. e. 3.39.4: "ou)
ga_r ta_ e)k tw~n bibli&wn tosou=to&n me w)felei=n u9pela&mbanon,
o#son ta_ para_ zw&shj fwnh=j kai\ menou&shj" (Apostolische
Väter, Hg. Lindemann / Paulsen, S. 290).
217 Armin D. Baum, "Papias,
der Vorzug der viva vox und die Evangelienschriften", New Testament
Studies 44 (1998), S. 144-151.
habe.218 Nach Wenham ist es unwahrscheinlich, dass solche,
die in den ersten zwei Generationen die "living voice" noch kannten, sich
auf die schriftliche Fassung stützten.219 "Only gradually
did confidence in the process of oral transmission wane and the superiority
of written apostolic traditions establish itself."220
Der Hauptgedanke hierbei ist: Wenn die viva vox
noch im 2. Jh. vorgezogen wurde, dann hat man wohl auch im 1. Jh. lieber
mündliche als schriftliche Quellen genommen, sofern sie erreichbar
waren. Auch Lk hielt es ja nach eigenen Angaben für besser, allen
pra&gmata
von Anfang an sorgfältig nachzugehen, als sich auf die Aufschreibeversuche
der polloi& zu stützen (vgl. 3.1.1).
So kann man annehmen, dass die Evangelisten lieber die mündliche Tradition
verwendeten, selbst wenn ihnen auch schriftliche Quellen zur Verfügung
standen - also anders als bei uns heute.221
In diesem dritten Kapitel haben wir gesehen, welche Argumente Vertreter der TH für ihre Ansicht vorbringen: Die TH stimmt demnach mit dem Lukasprolog überein, hat auch die Kirchenväter hinter sich (3.1) und kann die Phänomene im Evangelientext besser erklären als Benutzungshypothesen (3.2). Darüber hinaus ist sie auch historisch plausibel (3.3): Bedingt durch die Autorität der apostolischen Lehre konnte sich durch Auswendiglernen, schriftliche Notizen und wiederholtes Vortragen eine feste mündliche aramäische und griechische Tradition ausbilden, die bis zur Abfassung der Evangelien andauerte und die von den Evangelisten möglichen schriftlichen Quellen vorgezogen wurde.
218 Reicke, Roots,
S. 47, 153; Reicke, "Entstehungsverhältnisse", S. 1765. Vgl. Ignatius,
Philad.
8.2 (Apostolische Väter, Hg. Lindemann / Paulsen, S. 222).
219 Wenham, Redating,
S. 220.
220 Ebd., S. 222.
221 Vgl. Bailey, "Middle
Eastern", S. 363: "Probably everyone to some extent universalizes his or
her own cultural attitudes. ... For us in the West oral tradition is fluid
and unreliable. 'Get it in writing' is the cry! Do we perhaps unconsciously
assume that oral tradition in other cultures must likewise be un-stable?"
Reicke sieht mehr den zeitlichen als den kulturellen Abstand: Er kritisiert
"die literarischen Anachronismen der Benutzungs- und Urevangeliumshypothesen"
und dass man das "Archiv- und Schreibtischdenken" nicht auf früher
übertragen könne (Reicke, "Entstehungsverhältnisse", S.
1765; vgl. das Zitat von Schleiermacher ebd. und das Herderzitat S. 1763).
[Top]
4. ARGUMENTE GEGEN DIE TRADITIONSHYPOTHESE
Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die Einwände, die in neuerer Zeit direkt gegen die TH vorgebracht wurden. Dies betrifft in erster Linie die Einleitungen und dann auch Literaturberichte und einzelne Rezensionen. Längere Abschnitte oder gar Bücher, die die TH in neuerer Zeit widerlegen, sind mir - abgesehen von den Ausführungen bei Stein222 und bei Schmithals223 - nicht begegnet.224 Darum ist dieser Teil beträchtlich kürzer als Kapitel 3. Es ist natürlich gut möglich, dass man in verschiedenen Spezialstudien der Zweiquellentheorie zu Ergebnissen gekommen ist, die auch gegen die TH verwendet werden könnten. Doch hier geht es darum, was bisher tatsächlich an Argumenten genannt wurde.
4.1.1 Lukasprolog
Nicht nur Vertreter der TH, auch Befürworter
einer Benutzungshypothese berufen sich ganz selbstverständlich auf
den Lukasprolog. Die Einleitungen erwähnen ihn darum oft nur kurz.
Wikenhauser / Schmid konstatieren: Die TH "muß sich ... über
das allerälteste Zeugnis der Tradition hinwegsetzen, das Vorwort zum
Lk-Ev, das ausdrücklich vom Vorhandensein 'vieler' Evv-Schriften
spricht."225 Kümmel zeigt der TH, dass "Lk ausdrücklich
von Vorgängern in der schriftlichen Berichterstattung spricht 1,1"226,
und auch Schnelle trumpft auf: "... Zudem setzt zumindest Lk 1,1-4 explizit
die Benutzung literarischer Quellen voraus!"227 Schmithals,
der ein wenig mehr auf den Lukasprolog eingeht, meint, dass demnach bei
Lk "die Kenntnis von mündlichen Augenzeugenberichten eher unwahrscheinlich
sein" dürfte.228 Steins Deutung ist etwas moderater: "Luke
no doubt 'followed' these
222 Robert H. Stein, The
Synoptic Problem: An Introduction, Grand Rapids: Baker, 1987, S. 29-44.
223 Schmithals, Einleitung,
S. 90-126.
224 Die meisten Einleitungen
nennen nur eine Handvoll Argumente gegen die TH und gehen dann zum nächsten
Punkt über. Andere Einleitungswerke bleiben recht allgemein (Willi
Marxsen, Einleitung in das Neue Testament: Eine Einführung in ihre
Probleme, 1963, 4. völlig neu bearb. Aufl. Gütersloh: Mohn,
1978, S. 122 meint lapidar, dass die TH "die Verwandtschaft der synoptischen
Evangelien untereinander" nicht erklären könne; auch Vielhauer,
Geschichte,
S. 266 wird nicht konkreter), oder sie geben einfach nur eine Beschreibung
der TH (D. A. Carson / Douglas J. Moo u.a., An Introduction to the New
Testament, Leicester: Apollos, 1992, S. 28f.). Es zeigt sich, dass
eine eingehendere Diskussion - wie bezüglich der Griesbachhypothese
- in den Einleitungen offenbar (noch?) nicht nötig ist.
225 Wikenhauser / Schmid,
Einleitung,
S. 277.
226 Kümmel, Einleitung,
S. 21.
227 Schnelle, Einleitung,
S. 194.
228 Schmithals, Einleitung,
S. 34.
things via these written narratives as well as the oral traditions available to him".229 Eine eingehendere Diskussion des Lukasprologs findet in den Einleitungen offenbar nicht statt.230
4.1.2 Aussagen der Alten Kirche
Kümmel beschäftigt sich noch recht ausführlich
mit der Papiasnotiz.231 Er wehrt sich dagegen, "bei der Klärung
der literarischen Verhältnisse der Synpt. zueinander und der Entstehung
des Mt und Mk von den Angaben des Papias auszugehen", weil Sinn und Übersetzung
der Notiz "umstritten" seien und weil "Papias keine klaren Kenntnisse hatte",
die besser wären als eine eigene Untersuchung der Synoptiker. Papias'
Aussage über das MkEv sei fraglich, 1) weil man nicht wisse, was e9rmhneuth&j
heißt, da Petrus sicher keinen Dolmetscher verwendet habe, 2) weil
Papias bei dem Presbyter Johannes eine bessere Kenntnis von der ta&cij
des Lebens Jesu voraussetzt, die dieser "schwerlich" gehabt haben konnte.
Die Notiz über das aramäische MtEv könne ebenfalls nicht
ernstgenommen werden, "(w)eil unser Mt zweifellos keine Übersetzung
aus dem Aramäischen ist". Kümmel zieht das Fazit: "... es ist
daher geraten, die Papiasnotizen trotz ihres hohen Alters bei der Untersuchung
der literarischen Beziehung der Synpt. außer Betracht zu lassen".232
Mit Kümmels Urteil scheint - jedenfalls in
den Einleitungen - das letzte und entscheidende Wort gesprochen worden
zu sein.233 Schnelle erwähnt immerhin die Papiasnotiz bei
seiner Behandlung der Verfasserschaft des MkEv und des MtEv, hebelt sie
dort aber ebenfalls aus (keine petrinische Theologie im MkEv feststellbar;
eine "hebräische Urfassung" des MtEv ließe sich nicht belegen;
Mt konnte nicht der Augenzeuge und Apostel gewesen sein, weil er das MkEv
benutzte).234
229 Stein, Synoptic Problem,
S. 42.
230 Vgl. auch die Einschätzung
bei Baum, "Älteste Teilantwort", S. 9.
231 Kümmel, Einleitung,
S. 27-29.
232 Ebd., S. 29.
233 Merkel, "Überlieferungen",
S. 566 bringt dies auf den Punkt, wenn er sagt: "Die in diesem Jahrhundert
erschienenen neutestamentlichen Einleitungen zeigen ein kontinuierliches
Zurückgehen des Interesses an den patristischen Überlieferungen;
zum einen glaubte man sie schlecht und recht mit der vorherrschend gewordenen
Zwei-Quellen-Theorie versöhnen zu können, zum anderen konnte
vieles als legendarisch entlarvt und damit als historisch irrelevant beiseitegeschoben
werden." Merkel stellt sich jedoch der Aufgabe, angesichts des "zerbrechenden
Konsens(es) über die Zwei-Quellen-Theorie" (S. 566) wieder neu die
altkirchlichen Angaben zu untersuchen - und kommt zu dem Ergebnis, dass
sie keine literarische Abhängigkeit der Evangelien unterstützen.
234 Schnelle, Einleitung,
S. 215f., 235f.
Manchmal werden Spezialstudien auch nicht genau gelesen. Lindemann235 berichtet über Merkels Aufsatz, dass dieser gesagt habe, "aus der Überlieferung der Alten Kirche lasse sich für keine Hypothese eine Schlußfolgerung ableiten", und bekräftigt dies anhand eines Beispiels, um zu zeigen, dass den Aussagen der Kirchenväter nicht immer zu trauen ist. Das entspricht nicht Merkels Ergebnis, der bewusst die Benutzungshypothesen ausschloss und nicht die Wertlosigkeit der Kirchenväter für die synoptische Frage feststellte.236
[Top]
4.2.1 Stoffauswahl
4.2.1.1 Anteil an gemeinsamen Perikopen (zu
3.2.1.1)
Kritiker der TH weisen auf die gleichartige Stoffauswahl
in den drei Evangelien hin. Schmithals nennt u.a. "die begrenzte Auswahl
des Stoffes" als Beispiel dafür, dass sich die von der TH angenommene
mündliche Tradition "wie ein schriftliches Evangelium" verhalten haben
müsste, was nicht wahrscheinlich ist.237 In eine ähnliche
Richtung geht wohl Davies' Kritik an Wenham:238 Wenham erkläre
nicht, warum die Evangelien so kurz sind, wenn den Evangelisten eine Menge
an schriftlichem und mündlichem Material zur Verfügung stand.
4.2.1.2 Abwesenheit der Q-Tradition bei Mk
Nach Harrisons Meinung ist mit der TH kaum erklärbar,
warum Mk den gemeinsamen Mt/Lk-Stoff nicht hat, da dies Material auch in
der mündlichen Tradition vorhanden sein müsste. Dass es zwei
Arten von Traditionen gegeben habe, wie Wright es vorschlägt (vgl.
auch Reicke), findet Harrison nicht überzeugend.239 Auch
Guthrie erwähnt dieses Argument.240
235 Andreas Lindemann, "Literaturbericht
zu den Synoptischen Evangelien 1984-1991", Theologische Rundschau
59 (1994), S. 41-100, hier S. 75.
236 Merkel, "Überlieferungen",
S. 589.
237 Schmithals, Einleitung,
S. 91 ("wie ... Evangelium" ist bei ihm kursiv).
238 Meg Davies, "Rez.:
John Wenham, Redating Matthew, Mark and Luke: A Fresh Assault on the
Synoptic Problem, London: Hodder & Stoughton, 1991", Expository
Times 102 (1990/91), S. 377.
239 Everett F. Harrison,
Introduction
to the New Testament, 1964, 2. überarb. Aufl. Grand Rapids: Eerdmans,
1971, S. 144f.
240 Guthrie, Introduction,
S. 143. Guthrie gibt jedoch selbst mögliche Antworten: 1) Diese Schwierigkeit
besteht für jede Theorie, die sagt, dass Mt und Lk das MkEv benutzten.
2) Außerdem könnte Mk narratives Material einfach dem Diskursmaterial
vorgezogen haben (S. 144).
4.2.2 Stoffanordnung
Als eines der entscheidenden Indizien, die gegen
eine TH sprechen, wird recht häufig die ähnliche Reihenfolge
der Perikopen genannt, und zwar bei Martin, Wikenhauser / Schmid, Conzelmann
/ Lindemann, Schmithals, Guthrie und Stein.241 Voraussetzung
für dieses Argument ist, dass der große narrative Rahmen für
die Einzeltraditionen erst von den Evangelisten geschaffen wurde und nicht
schon in der mündlichen Tradition existierte: "Gerade die Reihenfolge
der einzelnen Abschnitte läßt sich nicht in das vorliterarische
Stadium der Überlieferung zurückführen, muß vielmehr
in der Hauptsache der redaktionellen Arbeit der Evangelisten zugeschrieben
werden."242 Guthrie erwähnt das Argument from Order
zwar, meint allerdings unter Hinweis auf Gerhardsson, dass "the preservation
of narrative sequences would not be an insuperable problem. ... The dominant
sequence might have become deeply imprinted through constant repetition",
aber man könne sich hier nicht sicher sein.243 Stein ist
der Ansicht, dass Memorisieren von einzelnen Abschnitten und Sprüchen
sicher möglich war, aber dass man kein ganzes Evangelium in einer
bestimmten Reihenfolge der Perikopen auswendig gelernt habe.244
4.2.3 Wortlaut
4.2.3.1 Die Höhe der Wortlautübereinstimmungen
(zu 3.2.3.1)
Wohl das häufigste Argument gegen die TH ist
die hohe Wortlautübereinstimmung bei den Synoptikern. Die Übereinstimmungen
seien zu groß, als dass sie mit der TH, also ohne literarische Abhängigkeit,
erklärt werden könnten. Wikenhauser / Schmid, Conzelmann / Lindemann,
Martin, Harrison, Guthrie, Kümmel, Schmithals, Schnelle und Meiser
/ Kühneweg bringen alle dieses Argument gegen die TH vor.245
241 Ralph P. Martin, New
Testament Foundations: A Guide for Christian Students, Bd. 1: The
Four Gospels, Grand Rapids: Eerdmans, 1975, S. 140; Wikenhauser / Schmid,
Einleitung,
S. 277; Hans Conzelmann / Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament,
12., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen: Mohr, 1998, S. 65; Schmithals,
Einleitung,
S. 91; Guthrie, Introduction, S. 142f.; Stein,
Synoptic Problem,
S. 34-37, 43.
242 Wikenhauser / Schmid,
Einleitung,
S. 277.
243 Guthrie, Introduction,
S. 143.
244 Stein, Synoptic
Problem, S. 43.
245 Wikenhauser / Schmid,
Einleitung,
S. 277; Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, S. 65; Martin, Foundations,
S. 139 betont, dass die Übereinstimmungen im griechischen Text vorkommen;
Harrison, Introduction, 145: hohe Wortlautübereinstimmung auch
in Details; Guthrie, Introduction, S. 142; Kümmel, Einleitung,
S. 21 meint: Mit der TH "allein läßt sich das komplizierte Problem
der Parallelen und Widersprüche in den Synpt. nicht lösen"; Schmithals,
Einleitung,
S. 85 benennt "die wörtlichen Übereinstimmungen im griechischen
Wortlaut der Synoptiker auch in ungewöhnlichen Worten und Wendungen
und in langen Passagen"; Schnelle, Einleitung: "... allerdings finden
die zahlreichen wortwörtlichen Übereinstimmungen keine überzeugende
Erklärung" (S.180, vgl. S. 194); Martin
Für Stein steht ebenfalls fest, dass "the exactness
of wording between the synoptic Gospels is better explained by the use
of written sources than oral ones."246 Es sei nicht möglich,
dass die Wortlautübereinstimmungen bloß dadurch verursacht sind,
dass über dasselbe Ereignis berichtet wird.247 Außerdem
seien die Übereinstimmungen im griechischen Wortlaut zu finden.
Auch Williams beanstandet in seiner Rezension zu Linnemann,248
dass sie die 40,99% Wortlautübereinstimmung zwischen Mt und Mk nicht
genügend erkläre. Wenn nämlich zwei Menschen einfach dasselbe
Ereignis berichten (worauf Linnemann die Übereinstimmungen im Wesentlichen
zurückführt), haben die Berichte sehr unterschiedlichen Wortlaut
- Williams hatte zwei Zeitungsberichte von einem Basketballspiel untersucht.249
Eine Analyse des Wortlauts müsse auch die Motive für die
Veränderungen ermitteln und nicht einfach nur die Wortlautunterschiede
zählen. Solche Bearbeitungen könnten sowohl sprachliche Verbesserungen
als auch theologische Änderungen beinhalten, nicht nur eins von beiden,
wie Linnemann offenbar meint.
4.2.3.2 Gleiche Parenthesen
Stein ist fast250 der einzige, der als
Argument die Parenthesen nennt. Das sind erklärende Hinzufügungen,
die nach allgemeiner Annahme auf den Evangelienschreiber zurückgehen.
Auch in diesen Parenthesen gibt es Übereinstimmungen.251
Stein führt folgende Stellen an:252 1) Mt 24,15 / Mk 13,14
("der Leser möge überlegen"); 2) Mt 9,6 / Mk 2,10 / Lk 5,24 ("sagte
er zu dem Gelähmten"); 3) Mk 5,8 / Lk 8,29 ("denn er hatte ihm geboten
...");
Meiser / Uwe Kühneweg u. a., Proseminar
II Neues Testament - Kirchengeschichte: Ein Arbeitsbuch, Stuttgart:
Kohlhammer, 2000, S. 55 weisen auf den "häufig weitgehend identische(n)
Wortlaut vor allem in der Logientradition" hin.
246 Stein, Synoptic
Problem, S. 43. S. 29-34 bringt er Beispiele für die Wortlautübereinstimmungen.
247 Ebd., S. 33. Stein
bestätigt allerdings an anderer Stelle selbst, was hier die Antwort
der TH wäre: "Actually, why should we assume that an eyewitness testimony
must be non-rounded? If we assume for the moment that Peter repeated a
pericope every month up to the time that Mark wrote his Gospel ..., this
would mean that he told the same account 420 times (35 years x 12). ...
Surely Peter's eyewitness testimony could become quite 'stereotyped and
generalized' in such a process" (ebd., S. 196).
248 Matt Williams, "Rez.:
Eta Linnemann, Is There A Synoptic Problem? Rethinking the Literary
Dependence of the First Three Gospels, Grand Rapids: Baker, 1992",
Trinity
Journal 14 (1993), S. 97-101.
249 Ebd., S. 100.
250 Harrison, Introduction,
S. 145 weist auf die Parenthese in Mk 2,10par hin.
251 In eine ähnliche
Richtung geht das Argument, dass auch gleiche Summarien ein Beweis für
literarische Abhängigkeit sind. Darauf verweist Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 157f., die nach einer Analyse in den meisten Summarien
allerdings nur eine geringe Wortlautübereinstimmung feststellte. Aber
das Argument der Kritiker der TH besteht wohl darin, dass an diesen Stellen
überhaupt Summarien auftreten.
252 Stein, Synoptic
Problem, S. 37-41.
4) Mt 27,18 / Mk 15,10 ("denn er wusste ..."); 5) Mt 9,21 / Mk 5,28 ("denn sie sagte sich..."); 6) Mt 26,5 / Mk 14,2 / Lk 22,2 ("denn sie sagten ..."); 7) Mt 26,14 / Mk 14,10 / Lk 22,3 und Mt 26,47 / Mk 14,43 / Lk 22,47 ("Judas, einer der Zwölf"). Besondere Argumentationskraft haben hier sicher die identischen Kommentare in Mt 24,15 und Mk 13,14 (o( a)naginw&skwn noei&tw), die den Leser anreden.
4.2.3.3 Die Andersartigkeit des Johannesevangeliums
Schmithals kritisiert die TH mit der Anfrage, warum
sich das JohEv nicht an die mündliche Tradition hielt, da Joh sie
doch gekannt haben müsste. Dass Joh die anderen Evangelien ergänzen
wollte, sei kaum wahrscheinlich, denn "(m)an gewinnt nirgendwo den Eindruck,
daß sein Verfasser den synoptischen Stoff beim Leser des Evangeliums
als bekannt voraussetzt und ihn insofern seinem Werk zugrundegelegt hat."
Auch wo es Parallelen zu den ersten drei Evangelien gibt, schreibe Joh
"in voller Freiheit".253 Stein argumentiert ebenfalls, dass
Joh dort, wo er ein ähnliches Ereignis berichtet, kaum Wortlautübereinstimmung
aufweise.254 Auch Williams stellt die Frage: "(W)hy is John
so different from the Synoptic Gospels since he, too, was an independent
eyewitness of the same events recorded in the gospels?"255
4.2.3.4 Nachweisbare Redaktion (zu 3.2.3.7)
Schnelle nennt als Argument gegen die TH "die nachweisbare
sprachliche und inhaltliche Bearbeitung zahlreicher Markustexte durch Matthäus
und Lukas".256 Martin konstatiert Ähnliches: "When there
is 'improvement,' it is always by Matthew of Mark, or by Luke of Matthew
and Mark. This is a decisive point against the oral theory."257
Die Rezensenten von Rist, dessen Hauptargument die
unerklärbare Redaktionstätigkeit der Evangelisten ist, werfen
ihm Unkenntnis der redaktionsgeschichtlichen Arbeiten vor. Kazmierski meint,
dass die Redaktionsgeschichte "valuable advances ... in our understanding
of transpositions and alterations within the gospels" ermöglicht habe.258
Longstaff betont ebenfalls, dass Rist "seems particularly unaware of the
many form and redaction
253 Schmithals, Einleitung,
S. 92f.
254 Stein, Synoptic
Problem, S. 33.
255 Williams, "Rez.: Linnemann",
S. 101.
256 Schnelle, Einleitung,
S. 194.
257 Martin, Foundations,
S. 140f.
258 Kazmierski, "Rez.:
Rist", S. 495.
critical studies which have provided clear and cogent explanations of Matthew's use of Mark (or, in a smaller number of cases, of Mark's use of Matthew)."259
[Top]
4.3 Historische Überlegungen
4.3.1 "Die Fragwürdigkeit mündlicher
synoptischer Tradition überhaupt" (zu 3.3.2)260
Schmithals bezweifelt, dass es überhaupt eine
mündliche Überlieferung vom Leben Jesu gegeben hat. Das ist auch
sein Hauptargument gegen die TH.261 Schmithals weist gegenüber
der TH auf die literarische Bildung in der damaligen Zeit hin und meint:
"...warum griff man nicht von Anfang an zu dem vertrauten
Mittel der schriftlichen Fixierung und Tradierung des evangelischen Stoffes?
... Ein Handbuch für die Evangelisten und ein Vorlesebuch für
die Lehrer wären dem Geist der Zeit in hohem Maße angemessen
gewesen."262
Auswendig gelernt habe man damals auch von schriftlichen
Texten (d.h. dem AT). Um die synoptische Tradition mündlich in fester
Form weitergeben zu können, hätte es einen bestimmten "Stand"
eines "Evangelisten" geben müssen, der sich die Tradition einprägte.
Zwar werden Menschen im NT mit dem Titel eu)aggelisth&j
bedacht, aber "(a)n keiner dieser Stellen findet sich der geringste Hinweis
auf evangelische Überlieferung".263 Außerdem sei
ein Aufschreiben einfacher gewesen.
In einem längeren Unterkapitel sucht Schmithals
nach Spuren der synoptischen Tradition bei Paulus, im übrigen NT und
bei den Apostolischen Vätern und findet nur vereinzelt Traditionen.
Er argumentiert, dass die synoptische Tradition im frühchristlichen
Schrifttum sich stärker hätte niederschlagen müssen, wenn
sie damals bekannt gewesen wäre, und urteilt abschließend: "Die
Beobachtung, daß die synoptische Tradition über mehr als 100
Jahre frühkirchlicher Entwicklung eine im wesentlichen apokryphe Tradition
war, mußte für die Traditionshypothese tödlich sein."264
Gleichwohl gibt Schmithals zu, dass eine Erklärung, warum die evangelische
Überlieferung in den frühen Schriften so auffällig fehlt,
259 Longstaff, "Rez.: Rist",
S. 130. Sein Zusatz in Klammern ist bemerkenswert, denn Longstaff vertritt
die Griesbachhypothese, die eine Benutzung des MtEv durch Mk annimmt.
260 Dies ist die Überschrift
eines Unterkapitels bei Schmithals, Einleitung, S. 93-126, wo er
sein wichtigstes Argument gegen die TH begründet.
261 Vgl. ebd., S. 90-126;
ders., "Evangelien", S. 582f.
262 Schmithals, Einleitung,
S. 90f.
263 Ebd., S. 92.
264 Ebd., S. 125.
immer noch aussteht.265
Mit diesem Argument steht Schmithals allerdings
recht alleine da. Andere Einleitungen betonen gerade, dass die TH an diesem
Punkt, nämlich der Existenz einer mündlichen Tradition, recht
gehabt habe. Kümmel sagt zustimmend: "Zweifellos ist der Niederschrift
der Evv. eine Zeit mündlicher Überlieferungen vorangegangen".266
Schnelle meint wohlwollend: "Bei der Traditionshypothese wurde zum ersten
Mal der große Anteil der mündlichen Tradition für die Evangeliumsbildung
erkannt".267 Und Meiser hält fest: "Richtig und wichtig
ist, daß die schriftliche Form der evangelischen Überlieferung
nicht die erste Form gewesen ist."268 Wohl nur wenige werden
also wie Schmithals die Existenz einer mündlichen Tradition in Frage
stellen.
4.3.2 Zweifel an der Festigkeit der mündlichen
Tradition (zu 3.3.3)
Als sich die Evangelientradition immer weiter ausbreitete,
konnte sie nach Meinung von Harrison wohl kaum fest geblieben sein, besonders
die Reihenfolge der Geschichten wird sich geändert haben.269
Dasselbe denkt auch Schmithals: "(D)aß eine allerorten verbreitete
mündliche Evangelientradition ... sich zu einem festen Typus bzw.
zu verschiedenen festen Typen ausbildet, hat keine Wahrscheinlichkeit für
sich" (S. 91).
Außerdem wird angezweifelt, ob die Jünger
überhaupt Worte Jesu auswendig gelernt haben. Gegen Riesner hat Lindemann
eingewendet, dass Riesner nur nachweise, dass das Auswendiglernen in der
damaligen Zeit allgemein Sitte war. In den Evangelien jedoch gebe es keine
Aufforderungen zum Auswendiglernen, und auch bei dem Vaterunser, wo man
es erwarten könnte, sei keine einheitliche Überlieferung festzustellen.270
Auch nach Wikenhauser / Schmid beweisen die Unterschiede zwischen den Evangelien,
gerade auch im Vaterunser und bei den Einsetzungsworten, dass "die
Überlieferung des Ev nicht in dem Ausmaß stereotyp war, wie
die Traditionshypothese voraussetzt" (S. 277, vgl. S. 296).271
Meiser weist ebenfalls auf die Abweichungen hin, um die These vom Auswendiglernen
zu
265 Ebd.
266 Kümmel, Einleitung,
S. 21.
267 Schnelle, Einleitung,
S. 180.
268 Meiser / Kühneweg,
Proseminar,
S. 55.
269 Harrison, Introduction,
S. 144.
270 Lindemann, "Literaturbericht
1978-1983", S. 232 zu Riesner, "Jesus-Überlieferung" und S. 271 zu
Riesner, "Jüdische Elementarbildung". Vgl. die Wiederholung des Einwands
bei Lindemann, "Literaturbericht 1984-1991", S. 62f. zu Riesner, Lehrer.
271 Wikenhauser / Schmid,
Einleitung,
S. 277, vgl. S. 296. Das gleiche Argument nennt Harrison,
Introduction,
S. 145.
widerlegen.272 Für Schnackenburg schließlich reicht
das Memorieren gar nicht aus, um die Übereinstimmungen zu erklären.273
272 Meiser / Kühneweg,
Proseminar,
S. 55.
273 Rudolf Schnackenburg,
"Rez.: Bo Reicke, The Roots of the Synoptic Gospels, Philadelphia:
Fortress Press, 1986", Biblische Zeitschrift 31 (1987), S. 281-283:
"Die oft verbalen Übereinstimmungen lassen sich kaum durch Memoriertechnik
oder persönliche Kontakte erklären" (S. 282).
[Top]
Nach einem Überblick über gegenwärtige Vertreter der TH (Kap. 2), einer systematischen Zusammenstellung ihrer Argumente (Kap. 3) und der aktuellen Gegenargumente zur TH (Kap. 4) kann nun eine Zusammenfassung und Bewertung versucht werden. In einem ersten Absatz wird jeweils kurz der Argumentationsaustausch gebündelt (falls es ihn gab) und dessen Schwerpunkte festgestellt, danach folgt eine eigene Beurteilung der Argumente und ggf. weiterführende Überlegungen zum entsprechenden Abschnitt.
5.1.1 Lukasprolog
Der Lukasprolog war bereits Gegenstand einiger Untersuchungen,
die die Zweiquellentheorie von dort aus hinterfragten (Scott, Baum, Felix).
Die ausführliche Dissertation von Scott ist hier besonders hervorzuheben.
Allerdings sind diese Analysen von Seiten der Zweiquellentheorie offenbar
noch nicht wahrgenommen worden, wohl weil sie abgelegen (Baum, Felix) bzw.
gar nicht (Scott) veröffentlicht wurden. Es erscheint allgemein immer
noch selbstverständlich, dass Lk im Prolog von seiner Benutzung von
Mk und Q spricht.274
Eine synoptische Theorie, die der Bezeugung der
eigenen Quellen zuwiderläuft, muss als unwahrscheinlich angesehen
werden. Wenn sich wirklich herausstellt, dass sich die Zweiquellentheorie
mit dem Lukasprolog nicht vereinbaren lässt, ist dies eine schwere
Anfrage an diese Theorie. Meiner Beobachtung nach spricht der Lukasprolog
viel eher für die TH, 1) weil Lk nicht sagt, er würde sich
auf diese anderen Berichte, sondern selbst auf Augenzeugen und Diener des
Wortes stützen; 2) weil Mk und der Verfasser von Q (und eventuell
gar der Verfasser des lukanischen Sondergutes) eben nicht polloi&
sind.
Mein eigener Vorschlag für das Verständnis
des Lukasprologs ist folgender: Die polloi&
sind einzelne Christen in griechischen und lateinischen Gemeinden, die
schreiben konnten und die die Traditionen über das Leben Jesu schriftlich
zusammenstellten (a)nata&ssesqai), so wie
die Missionare und Reiseprediger es der Gemeinde jeweils erzählt hatten.
Solche Notizen waren sekundär, von recht unterschiedlicher Reihenfolge
und darum nicht recht zuverlässig. 1) Diese Deutung kommt mit der
Erwähnung von polloi& (nicht: wenige)
am besten zurecht. 2) Sie kann die relative Abwertung (e)pexei&rhsan)
der anderen Berichte erklären. 3) Darum konnte es Lk für nötig
befinden,
274 Vgl. nur Schnelle, Einleitung, S. 194: "Zudem setzt zumindest Lk 1,1-4 explizit die Benutzung literarischer Quellen voraus!"
die Berichte nun wirklich in der "offiziell" gepredigten Reihenfolge (kaqech=j) aufzuschreiben. 4) Deswegen erschien es Lk auch notwendig, noch selbst einen weiteren Lebensbericht zu schreiben (sonst hätten Mt und Mk ja ausgereicht; er hätte höchstens einen lukanischen Anhang verfassen brauchen, aber keine unerklärbaren Wortumstellungen usw. in der Tripeltradition vorgenommen). 5) Wenn Lk in Vers 1 solche bekannten Leute wie Mt od Mk gemeint hätte, hätte er sie vielleicht mit Namen genannt. 6) Darum hat Lk als erstes Wort e)peidh&per "da ja" (durch -per verstärkt!), weil Theophilus von diesen anderen Notizen, die nicht ganz zuverlässig waren, auch wusste. - Als sich dann die offiziellen Evangelien in den Gemeinden ausbreiteten, wurden die sekundären Notizen nicht mehr weiter überliefert. So erklärt es sich auch, dass wir für diese anderen "Evangelien" keine historischen Anhaltspunkte haben (die uns überlieferten apokryphen Evangelien sind später verfasst).
5.1.2 Aussagen der Alten Kirche
Merkel hat deutlich festgestellt, dass sich keine
heutige Benutzungshypothese auf die Aussagen der frühen Kirche stützen
könne.275 So ist es nun die entscheidende Frage, wie man
mit diesen Mitteilungen umgeht. Weil die Aussagen eine literarische Unabhängigkeit
der Evangelien nahelegen, sind sie ein wichtiges Argument für Vertreter
der TH. Wenham behandelt darum zu Recht sehr ausführlich die altkirchlichen
Zeugnisse. Von Seiten der Zweiquellentheorie dagegen hat man sich bemüht,
die Kirchenväter als unglaubwürdig zu widerlegen; inzwischen
werden sie hier nur noch marginal zur Kenntnis genommen.
Zu Kümmels Widerlegung des Papias ist anzumerken, 1) dass e(rmhneuth&j
sehr wohl "Dolmetscher" (vgl. h(rmh&neusen
im nächsten Vers) heißen kann, weil Petrus sicher nicht fließend
Griechisch konnte und einen Übersetzer brauchte, um als Prediger ernst
genommen zu werden, 2) dass die mündliche Tradition bekanntermaßen
auch nach Abfassung der Evangelien noch weiterbestand (vgl. Eusebius, h.
e. 3.39.4) und in außersynoptischer mündlicher Überlieferung
z. B. aus Erzählungen des Apostels Johannes eine bessere ta&cij
des Lebens Jesu durchaus bekannt sein konnte.
Ob es sich bei dem MtEv um eine Übersetzung
handeln kann, wäre sicher noch genauere Untersuchungen wert, auch
ein Vergleich mit der Qualität antiker Übersetzungen könnte
weiterführen. Allgemein sollte die Diskussion um die Glaubwürdigkeit
der Kirchenväterzeugnisse zur Evangelienentstehung wieder neu einsetzen
- in dem Bewusstsein, dass methodisch die externe Evidenz der internen
Evidenz vorzuordnen ist.
275 Merkel, "Überlieferungen", S. 589.
[Top]
5.2.1 Stoffauswahl
5.2.1.1 Anteil an gemeinsamen Perikopen
Der hohe Anteil an gemeinsamen Perikopen wird hin
und wieder als Argument gegen die TH verwendet, weil anzunehmen ist, dass
die mündliche Tradition noch mehr Erzählungen enthielt. Linnemann
antwortet darauf, dass die Übereinstimmungen im Stoff auch einfach
historisch begründet sein können. Nach Reickes Überzeugung
von der Existenz einer durch häufige Wiederholung gefestigten mündlichen
Tradition hat man sich damals mit der Zeit auf eine gewisse Auswahl an
Stoffen konzentriert, die man oft weitererzählte.
Meiner Meinung nach ist Reickes Modell geeigneter,
um die Übereinstimmungen in der Stoffauswahl zu erklären. Denn
die Apostel haben sicher noch weitaus mehr erlebt und gehört, als
uns in den Evangelien überliefert ist (vgl. nur Joh 20,30; 21,25).
Also muss sich im Lauf der Zeit ein gewisser "Kanon" herauskristallisiert
haben von dem, was man regelmäßig über das Leben Jesu weitergab.
Eine häufige Wiederholung der Erzählungen erklärt auch die
nahezu identische Stoffreihenfolge und den ähnlichen Wortlaut, stimmt
mit formgeschichtlicher Beobachtung der Geschichten überein und kann
für die Zeit der ersten Christen auch als wahrscheinlich angesehen
werden. Mit dieser einen plausiblen Annahme ist also eine Deutung vieler
Phänomene möglich.
5.2.1.2 Verhältnis von Mk und Q
Von Harrison wurde die Abwesenheit der Q-Tradition
bei Mk als Argument gegen die TH verwendet, von der TH dagegen werden gerade
die Doppelüberlieferungstexte Mk/Q gegen die Zweiquellentheorie ins
Feld geführt (Rist). In neueren Publikationen ist es sicher unbestritten,
dass es diese Overlap Texts gibt.276
Die Doppelüberlieferungstexte Mk/Q sind, wie
andere Überschneidungen auch (Q/Sondergut, Mk/Sondergut), m. E. ein
wichtiges Argument der TH, das von ihr leider nur am Rande erwähnt
wird. Wenn Morgenthaler bei der Betrachtung der Mischlogien Mk/Q277
zu dem Schluss kommt: "Sicher liegen bei Mt und Lk recht komplizierte Mischungen
von Mk- und Q-Stoff vor"278, dann widerspricht dies der von
Downing beobachteten einfachen Redaktionsweise in der Antike. Andererseits
kann dies Phänomen von der TH
276 Vgl. Schnelle, Einleitung,
S. 209; Schüling, Studien; Fleddermann, Mark and Q.
277 Morgenthaler, Statistische
Synopse, S. 125-127.
278 Ebd., S. 127.
hervorragend erklärt werden.279
Trotzdem bleibt die Frage, warum Mk relativ wenig
Q-Material verwendete. Die Frage nach dem "Sitz im Leben" des Q-Materials
und der narrativen Stoffe könnte hier durchaus weiterhelfen. Dazu
könnte man auch die Theologie der Tripeltradition und die Theologie
von Q vergleichend gegenüberstellen. Es ist dann gut möglich,
dass man mit Reicke zu dem Ergebnis kommt, dass Evangelisation und Paränese
unterschieden werden können. Meine These ist allerdings, dass die
narrativen Mk-Stoffe mehrheitlich der Evangelisation dienten, und dass
das Q-Material von den Aposteln vor allem zur Paränese der Gemeinde
verwendet wurde.280 Für die Evangelisation braucht man
Geschichten, um die Menschen zu fesseln und ihnen Jesus und seine Macht
vor Augen zu malen; für die geistliche Ermahnung der Gemeinde können
einzelne Worte Jesu zitiert werden, die man in eine konkrete Problemsituation
hinein spricht und die darum auch keine feste Reihenfolge haben (vgl. die
wenigen Kontextparallelen im Q-Stoff). Das schließt natürlich
eine hin und wieder umgekehrte Verwendung nicht aus, weil die Grenzen hier
auch fließend sind.
[Top]
5.2.2 Stoffanordnung
5.2.2.1 Übereinstimmende Reihenfolge
Das wichtigste Argument gleich nach den Wortlautübereinstimmungen
scheint den Kritikern der TH die ähnliche Akoluthie in der Tripeltradition
zu sein. Dass Vertreter der TH dafür inzwischen drei verschiedene
Erklärungsmöglichkeiten anbieten, wird fast281 gar
nicht beachtet. Linnemann hält die übereinstimmende Reihenfolge
einfach für "historisch vermittelt", nach Reicke beruht die gemeinsame
Akoluthie auf der festen mündlichen Tradition, die Erinnerungen und
Lokaltraditionen in einem dreistufigen Leben Jesu verband, und Wenham schließlich
hält speziell in Bezug auf die gemeinsame Reihenfolge eine literarische
Abhängigkeit für wahrscheinlich.
279 Als mögliches zusätzliches
Argument kann man anführen, dass es eine Reihe von Abschnitten gibt,
die schon auf den ersten Blick nicht parallel sind, aber doch grob gesehen
den gleichen Inhalt haben. Solche werden in Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 122 aufgezählt, aber sie benutzt sie nicht als Argument;
vgl. auch Wenham, Redating, S. 11-39, der 14 Textpassagen herausfiltert,
die nicht direkt gemeinsamer Herkunft sein können. Nach der Zweiquellentheorie
sind dies wahrscheinlich Abschnitte, die "weniger mechanisch" (vgl. Schnelle,
Einleitung,
S. 194) eingeordnet werden können. Nach der TH dagegen wäre es
verwunderlich, wenn es solche Abschnitte nicht gäbe.
280 Reicke, Roots,
S. 57 denkt sich dies genau umgekehrt.
281 Vgl. nur Guthrie, Introduction,
S. 143, der sich unsicher ist, ob die Reihenfolge nicht doch "through constant
repetition" eingeprägt worden sein konnte. Stein, Synoptic Problem,
S. 43 kennt offenbar das Argument des häufigen Erzählens nicht,
da er hier nur das Memorieren als unzureichende Erklärung kritisiert,
aber an anderer Stelle (ebd., S. 196) durchaus von ständig wiederholten
Predigten ausgeht.
Wenn der "Rahmen der Geschichte Jesu" erst durch
Mk geschaffen wurde, ist das Argument from Order tatsächlich ein sehr
starkes Argument gegen die TH. Denn es wäre kaum denkbar, dass die
Evangelisten unabhängig voneinander die vielen kleinen Einzeltraditionen
in denselben redaktionellen "Rahmen", der womöglich noch ähnlichen
Wortlaut aufweist, eingefügt hätten. Aber könnte es nicht
genauso gut sein, dass der ungefähre narrative Rahmen in der mündlichen
Tradition durch Geschichtsserien auch mit überliefert wurde? Durch
das häufige Nacherzählen hat sich demnach in der "Standard"-Erzählung
der Apostel bald eine recht feste Anordnung herausgebildet, die nicht unbedingt
der historischen Chronologie entsprach (vgl. den einlinigen Aufbau der
Synoptiker). Die verschiedenen Einzellogien, die sonst noch im Umlauf waren
(Q-Überlieferung), haben Mt und Lk dann an unterschiedlicher Stelle
eingefügt (kaum Kontextparallelen im Q-Stoff).
So scheint mir Reickes Erklärung für die
ähnliche Abfolge der Perikopen die beste zu sein. Linnemanns offenbar
rein historische Begründung ist als eher unwahrscheinlich anzusehen.
Und Wenhams Rekonstruktion der Abfassung der Evangelien282 klingt
sehr fantasievoll. Da ist es schon eher möglich, dass sich die Apostel
durch häufiges Nacherzählen die Reihenfolge dieser (laut Wenham)
72 Perikopen merken konnten.
5.2.2.2 Die Platzierung des Q-Stoffes
Eine für Reicke wichtige Beobachtung ist die
völlig unterschiedliche Platzierung des Q-Stoffes bei Mt und Lk. Damit
wendet er sich gegen "jede Annahme einer schriftlich oder mündlich
irgendwie fixierten Unterlage" nach der Art von Q.
Die Flexibilität des Q-Materials spricht durchaus für dessen
Mündlichkeit. Es ist tatsächlich nicht einfach zu erklären,
warum die Evangelisten eine schriftliche Quelle Q so auseinanderrissen,
während sie Mk in seiner Reihenfolge treu blieben. (Allerdings kann
man einwenden, dass die einzelnen Logien in Q unverbunden untereinander
standen und deswegen zur willkürlichen Einfügung in die Tripeltradition
einluden.) Dass Mt und Lk stattdessen einen Stapel von Notizzetteln mit
Aussprüchen Jesu vor sich liegen hatten, ist wohl auch kaum anzunehmen.
Wenn aber eine mündliche Q-Tradition mit solchen Wortlautübereinstimmungen
möglich ist, dann wären auch die Wortlautübereinstimmungen
in der Tripeltradition kein Hindernis mehr für deren Mündlichkeit.
Damit kommen wir zum nächsten Punkt:
282 Wenham, Redating, S. 207-210.
[Top]
5.2.3 Wortlaut
5.2.3.1 Die Höhe der Wortlautübereinstimmungen
Das meistgenannte Argument gegen die TH sind die
hohen Wortlautübereinstimmungen zwischen den Evangelien. In der Regel
aber beachten die Kritiker dabei nicht die Erklärungen, die von der
TH für dieses Phänomen gegeben werden. Anstatt dass man sich
konkret mit ihren Deutungen der Wortlautübereinstimmungen auseinandersetzt,
wird dieser Allgemeinplatz von Einleitung zu Einleitung weitergetragen.
Eine Ausnahme machen Stein und die Rezension von Williams, denen das Argument
bekannt ist, dass die Übereinstimmungen einfach durch den Bezug auf
dasselbe Ereignis zustandekommen.283 Dies ist im Wesentlichen
die Position von Linnemann, obwohl auch sie von "Angleichungen" durch Austausch
der Jünger über die Ereignisse ausgeht. Daneben gibt es aber
auch den Ansatz von Reicke, der die ständige Wiederholung der Geschichten
als Ursache für die Übereinstimmungen sieht. Drittens wird bei
hohen Wortlautübereinstimmungen teilweise davon ausgegangen, dass
die Jünger diese Worte Jesu auswendig lernten. Viertens wird von Vertretern
der TH auch sehr häufig die Existenz von einzelnen Notizen (teilweise
als u(pomnh&mata für die Verkündigung)
vorausgesetzt.
Auf diese vier Erklärungsansätze müsste
von Seiten der Zweiquellentheorie wirklich eingegangen werden, wenn man
die TH durch den Hinweis auf die hohen Wortlautübereinstimmungen widerlegen
will. Allerdings sind nicht alle vier Erklärungen gleich gut. Mit
den m. E. schlechtesten, dem schlichten historischen Rückbezug und
dem Memorieren, hat man so bisweilen auch schon abgerechnet. Anscheinend
nicht beachtet werden dagegen die besseren Argumente der TH für die
Wortlautübereinstimmungen: die Möglichkeit von schriftlichen
Gedächtnisstützen und besonders die durch ständige Wiederholung
gefestigte mündliche Tradition.
5.2.3.2 Die Unterschiedlichkeit der Wortlautübereinstimmungen
Die Variabilität der Wortlautübereinstimmungen
ist ein Argument, dass meiner Meinung nach von der TH bisher sehr unterbewertet
wurde. Für die Benutzungshypothesen ist es nämlich schwer zu
erklären, warum die redigierenden Evangelisten in so wechselndem Ausmaß
in den Text eingegriffen haben sollten, sodass an einer Stelle weitaus
mehr Wortumstellungen, Synonyme, andere grammatische Konstruktionen usw.
vorkommen, an einer anderen Stelle weniger. Man könnte anhand eines
psychologischen Experiments untersuchen, ob nicht doch eine gewisse Gleichmäßigkeit
bei redaktioneller Arbeit vorauszusetzen
283 Stein, Synoptic Problem, S. 33; Williams, "Rez.: Linnemann", S. 100.
ist.284 Damit sind nicht theologische
Verbesserungen gemeint, die natürlich variieren können, sondern
die Abänderung der sprachlichen Struktur des Textes, die sich innerhalb
eines gewissen Rahmens bewegen müsste (vgl. dagegen Abbildung 5).285
Stattdessen ist eine kontinuierliche(!) Abstufung der Wortlautübereinstimmungen
von 100% bis 7% in den Mk/Mk-Perikopen zu beobachten.286
Wie kann diese Unterschiedlichkeit nun im Rahmen
der TH erklärt werden? Perikopen mit hoher Übereinstimmung im
Wortlaut wurden in der Urgemeinde wohl sehr häufig weitergegeben,
so dass die Festigkeit ihres Wortlauts entsprechend hoch ist. Oder die
Urgemeinde hatte sich hier Notizen gemacht. Man muss psychologisch außerdem
damit rechnen, dass die "Pointen", d.h. die Kernsätze oder z.B. Jesusworte
in Apophthegmata am besten behalten wurden.287
5.2.3.3 Gleiche Parenthesen
Bei Stein begegnet das Argument, dass das Vorkommen
ähnlicher Parenthesen literarische Abhängigkeit erfordert. Linnemann
hat diese Einschübe als schon im Leben Jesu verortet, als notwendige
redaktionelle Überbrückung der Evangelisten oder einfach wegen
geringer Wortlautübereinstimmung als nicht literarisch abhängig
angesehen.288
Meines Erachtens wäre es bei den meisten dieser
Beispiele kein Problem, sie schon als Teil der narrativen Struktur der
festen mündlichen Tradition anzusehen. Anders ist dies bei Mt 24,15
/ Mk 13,14 (o( a)naginw&skwn noei&tw),
wo die TH tatsächlich in größeren Erklärungsschwierigkeiten
steckt. Linnemanns Deutung auf das Lesen des Profeten Daniel, der kurz
vorher erwähnt wird, erklärt m. E. nicht, warum diese Bemerkung
in einer Paren-
284 Vgl. Rist, Independence,
S. 32: "If we suppose that Matthew depends on Mark, we have to account
for substantial differences in the quality of his abbreviating."
285 Die Zahlen für
Wortlautübereinstimmungen im Q-Stoff bei Lk habe ich Linnemann, Bibelkritik,
S. 28-31 entnommen und sie in der Lk-Reihenfolge sortiert. Es sind nur
die Werte für die ersten 23 Perikopen (aus Lk 2-10) abgebildet.
286 Vgl. Morgenthaler,
Statistische
Synopse, S. 239-241.
287 Vgl. Dearing, "Synoptic
Problem", S. 132f.; Gieseler bei Reicke, "Entstehungsverhältnisse",
S. 1764.
288 Linnemann, Bibelkritik,
S. 47-49 (S. 42-49 zu Stein).
these steht und ein Subjektwechsel (u(mei=j - o( a)naginw&skwn) stattfindet. Es sind aber weitere Möglichkeiten zur Auflösung des Problems denkbar: 1) Bei der Übersetzung des aramäischen MtEv ins Griechische hat der Wortlaut des MkEv abgefärbt. 2) Mk hat nach dem Schreiben seines Evangeliums noch das Mt-Exemplar durchgesehen (Wenham). 3) Die Parenthesen in Mt und Mt sind sehr früh kurz nach 70 n. Chr. hinzugefügt, zumal der Leser hier auf den unmittelbaren Gegenwartsbezug des Abschnitts aufmerksam gemacht wird. - Die letzte Möglichkeit halte ich für die wahrscheinlichste.
5.2.3.4 Die Andersartigkeit des Johannesevangeliums
Dieses Argument müsste von der TH noch bearbeitet
werden, da es einige Kritiker der TH (Schmithals, Stein, Williams) vorbringen.
Ein kleiner Vorschlag von mir: Einmal angenommen, dass das JohEv von dem
Apostel geschrieben wurde und er das bewusste Ziel hatte, die anderen Evangelien
zu ergänzen, die ta&cij des Lebens
Jesu genauer einzuhalten (vgl. "das erste Zeichen" (Joh 2,11), "das zweite
Zeichen" (Joh 4,54), die verschiedenen Jerusalembesuche nach Joh sowie
Papias bei Eusebius, h. e. 3.39.15) und in Gesprächen Jesu
"evangelistische" Christologie für ein griechisches Umfeld zu vermitteln,
dann könnte dies die völlige Neukonzeption erklären. Nach
der Art, wie die Geschichten erzählt werden, sind sie nicht durch
häufige Wiederholung abgeschliffen, was auch auf die Erzählung
eines Augenzeugen hindeuten könnte.
5.2.3.5 Gemeinsamer Wortschatz
Linnemann hat hier etwas untersucht, was mir in
keiner Publikation als Argument gegen die TH begegnet ist. Möglicherweise
ist es darum kein relevanter Punkt zur Argumentation für die TH. Mir
stellt sich außerdem die Frage, ob Linnemanns Methode der Wortschatzuntersuchung
so glücklich gewählt ist, wenn sie einfach die Anzahl der Wörter
herausfiltert, die in den Evangelien selten und gleichgewichtig vorkommen.
Literarische Abhängigkeit kann sich auch bei häufigen Wörtern
zeigen, und seltene Wörter können auch ungleichgewichtig übernommen
worden sein. Eine Untersuchung des Vokabulars muss wohl anders angegangen
werden. Außerdem wären Vergleichsstudien nötig, um Kriterien
zu gewinnen, an denen man entscheiden kann, wann gemeinsames Vokabular
ein Indiz für literarische Abhängigkeit ist und wann nicht. Last
but not least erscheint mir eine solche Analyse lange nicht so aussagekräftig
wie z. B. die Untersuchung, ob die redaktionelle Bearbeitung des Mk durch
Mt und Lk (selbst unter Annahme eines Dmk) durchgängig erklärbar
ist.
5.2.3.6 Minor Agreements
Der Hinweis auf die Minor Agreements gegenüber
der Zweiquellentheorie scheint ins Leere zu treffen, weil inzwischen schon
häufig ein Dmk angenommen wird, der mit diesem Phänomen zurechtkommt.
Doch ob nun zur Erklärung der Minor Agreements ein Dmk postuliert
wird oder nicht: Die Wahrscheinlichkeit der Zweiquellentheorie sinkt meiner
Meinung nach in beiden Fällen, entweder durch die Zusatzannahme oder
durch die unerklärbare Existenz der Minor Agreements. Die Richtigkeit
dieser Zusatzannahme könnte allerdings durch zwei Untersuchungen wahrscheinlicher
oder unwahrscheinlicher gemacht werden.
Zum einen wäre zu fragen, ob die angenommene
deuteromarkinische Redaktion des MkEv eine einheitliche Tendenz zeigt oder
ähnlich unerklärbar bleibt wie eine mt oder lk Redaktion an manchen
Stellen. Im letzteren Fall wäre dies ein Argument gegen Dmk und die
Zweiquellentheorie überhaupt.
Zum anderen muss geprüft werden, ob sich ein
Dmk textkritisch niedergeschlagen hat. Ennulat, der diese Forderung auch
erhebt, erwähnt eine nicht publizierte Vorstudie von P. Lampe, der
dort gemeint habe, dass "am ehesten" im Freerianus (W) und der Ferrar-Gruppe
(f 13) "mit Nachklängen einer vormtlk Mk-Bearbeitung
gerechnet werden kann."289 In diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich
ist ein neuerer Aufsatz von U. Victor, einem Berliner Texthistoriker, der
sich dem Thema möglicher Evangelienredaktionen widmete.290
Victor sucht nach früheren Evangelienauflagen und betont, dass Redaktionen
textkritisch nachweisbar sein müssten,291 zumal auch die
redaktionelle Hinzufügung der Markusschlüsse, der Adultera-Perikope
und die zwei Fassungen der Apg textkritisch deutlich wahrzunehmen sind292.
In den textkritischen Varianten in frühen Handschriften (er untersucht
hier den P66) sind nach Victor nur Fehler festzustellen, die
für die normale antike Handschriftenüberlieferung typisch sind
und auch in deren Grenzen verlaufen; dagegen gebe es
289 Ennulat, Minor Agreements,
S. 429f. Er äußert sich an diesem Punkt optimistisch, sagt aber
auch deutlich (S. 430): "... Ein Negativ-Befund im Hss-Material wäre
dagegen ein deutlicher Hinweis darauf, daß eine eine [sic] vormtlk
Mk-Bearbeitung zur Erklärung der mtlk Übereinstimmungen gegen
den MkText [sic] eher nicht in Frage kommt."
290 Ulrich Victor, "Was
ein Texthistoriker zur Entstehung der Evangelien sagen kann", Biblica
79 (1998), S. 499-514.
291 Ebd., S. 500: "Wenn
also verschiedene Auflagen, Ausgaben, Fassungen, Editionen, Redaktionen
eines Textes erst einmal an die Öffentlichkeit gelangt waren, war
es nahezu unmöglich, die jeweils frühere(n) Auflage(n) aus der
zukünftigen Überlieferung des Textes auszuscheiden, wie es im
Zeitalter des Buchdrucks geschieht." Außerdem komme es bei unterschiedlichen
Fassungen wie bei der Apg auch im Lauf der Zeit zur Kontamination, z.B.
wenn nichtwestliche Handschriften an einigen Stellen westlichen Text angenommen
haben.
292 Ebd., S. 501.
keine "Spur einer früheren unterschiedlichen Auflage".293 Wenn Victor schließlich aufgrund fehlender textkritischer Evidenz einen Ur-Mk, eschatologischen Ur-Johannes usw. klar ablehnt,294 so kann man dies wohl auch auf Dmk übertragen.
5.2.3.7 Unerklärbare oder nachweisbare
Redaktion?
Von Seiten der Benutzungshypothesen wird gerne auf
"die nachweisbare sprachliche und inhaltliche Bearbeitung"295
durch die redigierenden Evangelisten hingewiesen (Schnelle, Martin, Kazmierski,
Longstaff). Die TH dagegen bemüht sich, eine ausreichende Menge an
Gegenbeispielen zu sammeln, wo eine solche Redaktion eben nicht erklärbar
ist (Rist, Riesner). Sie wird darin unterstützt durch die Beobachtungen
von Sanders und durch Arbeiten der Griesbachhypothese, die gerade in die
umgekehrte Richtung eine Redaktionstätigkeit nachweisen wollen. Außerdem
spricht auch die Tatsache, dass in der Antike offenbar keine vergleichbar
komplexe Redaktionstätigkeit vorkam, für die TH.
Meiner Meinung nach ist die unerklärbare Redaktion
ein wichtiges Argument für die TH. Der Kommentar Longstaffs in seiner
Rezension zu Rist zeigt sehr schön, wie unklar eigentlich die Begründung
mit anscheinend nachweisbarer Redaktion ist, da man offenbar für beide
Richtungen "clear and cogent explanations" finden kann.296 Crook
meint zwar nach seiner Untersuchung der Gleichnisse, dass eine Redaktionstätigkeit
im Rahmen der Zweiquellentheorie am besten erklärt werden könne,
aber auch nur als "the one that fails the fewest times".297
Wenn Mk allgemein eher kürzer ist und eine einfachere Sprache hat,
dann kann man unter Annahme einer literarischen Abhängigkeit gut zu
diesem Ergebnis kommen, dass die Zweiquellentheorie besser als andere Benutzungshypothesen
redaktionelle Bearbeitung erklären kann. Aber stilistische und theologische
Unterschiede zwischen den Evangelien müssen eben nicht auf Redaktion
zurückgeführt werden, sondern können einfach auf persönliche
Faktoren des Evangelisten zurückgehen. Viel versprechend (für
die TH) scheint außerdem auch der Vergleich mit antiker Redaktionstätigkeit
zu sein.
293 Ebd., S. 503f.
294 Ebd., S. 513.
295 So meint Schnelle,
Einleitung,
S. 194.
296 Longstaff, "Rez.: Rist",
S. 130.
297 Crook, "Synoptic Parables",
S. 47.
[Top]
5.3.1 Existenz einer mündlichen griechischen
Tradition
Dass überhaupt Traditionen vom Leben Jesu in
der Urgemeinde kursierten, muss als Teil des Argumentationsgangs natürlich
auch von der TH verteidigt werden. Wenham schreibt ein kurzes Kapitel dazu;
doch insgesamt ist es wohl kein relevantes Problem, weil eine mündliche
Tradition vom Mainstream der Theologie gar nicht angezweifelt wird.
Es ist bezeichnend, dass gerade derjenige, der sich
in neuerer Zeit intensiver mit der TH beschäftigt hat, als sein zentrales
Argument gegen die TH die Existenz einer mündlichen Tradition überhaupt
anzweifelt. Entweder kennt Schmithals keine weiteren Argumente, weil(?)
er mit den Erklärungsmöglichkeiten der TH vertraut ist, oder
er hat nach dieser ganz grundsätzlichen Widerlegung nicht weiter über
Gegenargumente nachgedacht.
5.3.2 Die Festigkeit der mündlichen griechischen
Tradition
Harrison und Schmithals denken, dass sich mit der
räumlichen Ausbreitung der evangelischen Überlieferung die feste
Form immer stärker verflüchtigt haben müsste, und ich kann
ihnen an dieser Stelle voll zustimmen. Das war meiner Ansicht nach auch
das Problem der polloi& im Lukasprolog,
deren Niederschriften sekundär und eben nicht kaqech=j
und sorgfältig waren. Aber bei den Aposteln selbst bzw. im engsten
Kreis um die Apostel müssten die Traditionen weiterhin mit ganz ähnlichem
Wortlaut bewahrt worden sein.
Für die Festigkeit der mündlichen Tradition
werden von der TH drei verschiedene Argumente (Memorieren, Notizen, Wiederholung)
vorgetragen, jedoch spielt nur eines davon in der Diskussion eine Rolle,
und zwar das Auswendiglernen der Worte Jesu. Weil in besonders zentralen
Texten wie dem Vaterunser auch keine völlige Wortlautübereinstimmung
zu beobachten ist, schließt man, dass das Memorieren erst recht nicht
an anderer Stelle zur Anwendung kam.
Aber muss das Memorieren als Erklärung gleich
versagen, wenn die Wortlautübereinstimmung in den Evangelien nicht
100% beträgt? Es wäre doch z.B. auch denkbar, dass der Schreiber
des Evangeliums die Jesustradition von jemandem gehört hat, der ein
Jesuswort absolut genau reproduzieren konnte, doch der Evangelist selbst
hat dies Wort dann nur ungefähr aufgeschrieben. Andererseits wird
wohl niemand ein ganzes Evangelium memoriert haben, was Stein aber den
Vertretern einer literarischen Unabhängigkeit zu glauben vorwirft.
Jedoch kann das Memorieren für bestimmte Wortlautübereinstimmungen
ein Stück weit mit verantwortlich sein, aber ich würde darauf
kein großes Gewicht legen.
Die zweite Möglichkeit für eine Festigkeit
der mündlichen Tradition ist die Existenz von
Notizen. Auf diesen Punkt wird offenbar bei den Gegnern der TH gar nicht
eingegangen, obwohl diese Annahme bei der TH weit verbreitet ist. Es sollte
hier streng unterschieden werden zwischen einzelnen Diegesen, die zwei
oder drei Evangelisten gleichzeitig vorlagen, und zwischen Notizen als
Gedächtnisstützen für die Verkündiger der evangelischen
Überlieferung, die die Evangelisten aber nicht direkt benutzten.
Im ersten Fall wäre bei den Wortlautübereinstimmungen
in den Perikopen eine "Lücke" zu erwarten: Abschnitte mit sehr hoher
(z.B. 90%) Wortlautübereinstimmung müssten auf gemeinsamem Gebrauch
von Notizen beruhen; Perikopen mit mittelhoher Übereinstimmung gäbe
es dann wieder sehr wenige, und mit durchschnittlicher Übereinstimmung
gäbe es danach wieder mehr. Aber so sieht die Realität nicht
aus. Abbildung 6 zeigt jeweils die Anzahl der Perikopen, die eine gewisse
Wortlautübereinstimmung besitzen.298 Zwischen Mk und Mt
gibt es beispielsweise 14 Perikopen, die eine Übereinstimmung von
40-45% haben. An dieser Tabelle wird nun deutlich, dass die Wortlautübereinstimmungen
keineswegs disparat verteilt sind, sondern eine langgezogene Kumulation
bilden, von der sich wohl kaum Hinweise auf Notizen abtrennen lassen.
Meiner Meinung nach waren schriftliche Aufzeichnungen
bei den Aposteln und deren Umfeld als u(pomnh&mata
durchaus möglich; aber die Evangelisten haben dennoch die viva
vox gegenüber evtl. vorhandenen Notizen bevorzugt. Wenn den Evangelisten
Aufzeichnungen gemeinsam vorgelegen hätten, dann hätte sich dies
wohl in auffällig hoher Wortlautübereinstimmung bemerkbar gemacht.
Gegenüber Dearings eindeutiger Bestimmung der Abschnitte, die auf
gemeinsame Notizen zurückgehen, bin ich darum eher skeptisch.
Die dritte Möglichkeit zur Erklärung der
Festigkeit ist m. E. die überzeugendste. Unter Berufung auf die Formgeschichte
kann ein Vertreter der TH deutlich machen, dass die Geschichten stilisiert
sind und so darauf hindeuten, dass sie häufig erzählt worden
sind. Wenn sie aber ständig wiederholt wurden und dadurch eine bestimmte
Form annahmen,
298 Die Werte sind aus den Listen bei Morgenthaler, Statistische Synopse, S. 239-243 zusammengezählt.
hindert uns auch nichts daran, bei ihnen eine gewisse sprachliche Fixierung
zu vermuten.299 Dass Wiederholung zu ähnlichen Formulierungen
führt, kann man an sich selbst bemerken, wenn man ein Ereignis aus
seinem Leben häufig erzählt. Bald verwendet man ähnliche
Worte und betont dieselben Aspekte.
Unglücklicherweise hat sich die Diskussion
an dem Punkt des Memorierens festgebissen und ist nicht auf die Festigkeit
durch häufiges Wiederholen eingegangen.
[Top]
1) Zunächst muss gesagt werden, dass die Argumente
der TH allgemein nur sehr wenig bis gar keine Beachtung finden. Was an
Kritik vorgebracht wird, sind häufig noch die klassischen Gegenargumente,
ohne dass danach gefragt wird, wie die TH die hohen Wortlautübereinstimmungen
oder die ähnliche Akoluthie nun tatsächlich zu erklären
versucht.
2) Besonders starke Argumente der TH sind der Lukasprolog,
die Unterschiedlichkeit der Wortlautübereinstimmungen, die unerklärbare
Redaktion und die Plausibilität einer festen mündlichen Tradition
durch die beobachtbare Formung der Geschichten.
3) Wichtige Gegenargumente, die bis jetzt kaum von
der TH beantwortet wurden, betreffen die Andersartigkeit des Johannesevangeliums
und die gemeinsamen Parenthesen.
[Top]
Die Forschungen in Bezug auf Argumente, die für
oder gegen eine TH sprechen, stehen häufig noch am Anfang. Für
weitere Untersuchungen seien hier noch einige Gedanken genannt:
a) Meines Wissens fehlt noch eine längere Forschungsarbeit
über die Art redaktionellen Arbeitens in der Antike und deren Vergleich
mit den Evangelien. Die redaktionellen Abänderungen in beiden Textkorpora
müssten klassifiziert, alle einzelnen Veränderungen diesen Klassen
zugeordnet und anschließend bestimmt werden, welches Ausmaß
und welche Art von Veränderungen in Bezug auf die jeweiligen persönlichen
Voraussetzungen des Redaktors (Wunsch nach Zusammenfassung, stilistische
Vorlieben
usw.) zu erwarten sind.
b) Es sind noch mehr empirische Untersuchungen zur
menschlichen Gedächtnistätigkeit nötig. Baum hat schon nachgewiesen,
dass beim Aufschreiben aus der Erinnerung gewisse
299 Vgl. Marxsen, Einleitung, in seinem Abschnitt zur Formgeschichte: "In mündlicher Tradition konnte durchaus schon eine ziemlich stabile Fixierung geschehen, vor allem wenn man sich für die Überlieferung vorgegebener Formen bediente" (S. 131).
Unterschiede, die oft als redaktionell gedeutet werden, ebenfalls auftreten.
Außerdem könnte man erforschen, nach wieviel Wiederholungen
z. B. 40% an Wortlautübereinstimmungen eintreten und eine Reihenfolge
von 72 Geschichten, die nicht selten inhaltlich zusammenhängen, weitgehend
beibehalten wird.
c) Es muss erforscht werden, wie man am besten die
Parallelität im Wortlaut von Texten ausdrückt. Wir müssen
unsere Methoden verfeinern. Die Parallelität zwischen den Evangelien
auf eine Weise zu berechnen, wie Linnemann es tut, ist jedenfalls ein recht
grobes Raster. Wenn 40,56% Übereinstimmungen 95,34% Unterschiede entgegenstehen
sollen, dann klingen diese Werte sehr unglücklich. Außerdem
ist der Unterschied zwischen zwei Texten auch nicht so groß, wenn
es sich einfach um andere Wortformen handelt, als wenn dort ein ganz anderer
Satz steht; das kann man durch einfaches Zählen von Wortlautübereinstimmungen
nicht berücksichtigen. Z.B. in Mt 3,16/Lk 3,21 benutzt Mt das participium
coniunctum baptisqei\j de\ o( 0Ihsou=j,
Lk nur den genitivus absolutus kai\ 0Ihsou=
baptisqe&ntoj, was bei Linnemann natürlich nicht als Wortlautübereinstimmung
gerechnet wird.300 Um das Ausmaß der Übereinstimmungen
und Unterschiede zu ermitteln und in einen einzigen Wert zusammenzufassen,
sind auch Wortposition und Formen desselben Wortstammes sowie weitere Faktoren
mit in den "Parallelitätswert"301 einzubeziehen.
d) Der "Parallelitätswert" sollte in verschiedenen
Stoffen (Jesuslogien in Apophthegmata, Q-Material, narrativer Rahmen usw.)
gesondert berechnet und verglichen werden.
e) Allgemein sollte man Forschungsarbeiten zur synoptischen
Frage mehr von der Phänomen-Seite her aufbauen. Die Versuchung ist
sonst zu groß, sich jeweils zu einen erdachten Modell als Argumente
diejenigen Phänomene zusammenzusuchen, die zu passen scheinen. Zu
selten (außer bei der Untersuchung der altkirchlichen Bezeugung)
geht man
300 Linnemann, Synoptisches
Problem?, S. 105.
301 Der "Parallelitätswert"
könnte ein künstlicher Wert zwischen 0 und 100 sein. Wenn alle
Wörter parallel laufen, ist P=100 bei dieser Perikope. Wenn z.B. zwei
von 50 Wörtern ganz anders lauten oder fehlen, ist P=100-(2:50*100)=96.
Wenn es sich bei diesen zwei Wörtern jedoch nur um andere Wortformen
handelt, sollte man beispielsweise den Faktor f=0,5 hinzunehmen: P=100-((0,5*2):50*100).
Für andere Wortpositionen schlage ich den Faktor 0,3 vor, weil ein
solcher Austausch leichter möglich ist als z.B. eine Konstruktion
zu verändern (part. coni. als gen. abs. u.a.). Insgesamt ergibt sich
also für den Parallelitätswert die Formel: P=100-((wa+0,5*wf+0,3*wp):wges*100);
wges: Gesamtzahl der Wörter, wa: Anzahl der
Wörter, die ganz anders lauten, wf: Anzahl der Wörter,
die eine ähnliche Wortform haben und wp: Anzahl der Wörter,
die gleich sind oder eine ähnliche Wortform haben, aber an einem anderen
Ort stehen. Beispiel für Mt 3,17 und Lk 3,22b: P(Mt 3,17 bzgl. Lk
3,22b) = 100-((3+0,5*5+0,3*0):17*100) = 67,6 (auf die Wortzahl von Mt bezogen).
- Diese Formel wäre zwar etwas genauer, wird aber den Textstrukturen
immer noch nicht vollständig gerecht, denn wenn z.B. ein Substantiv
in der Parallele im Pl. erscheint, werden auch die dazugehörigen Adjektive
im Pl. stehen. Es ergäbe sich dann derselbe P-Wert wie bei zwei oder
drei unabhängigen Änderungen. Vielleicht wäre es deswegen
am besten, die syntaktischen Einheiten zur Grundlage von Parallelitätsuntersuchungen
zu machen. Linnemanns Angaben von 100% Unterschiedlichkeit usw. sollten
jedenfalls weiter überdacht werden.
von den Einzelerscheinungen aus und fragt, wie gut diese von den einzelnen
Modellen erklärt werden. Ein positives Beispiel ist Crook, der beim
"Einzelphänomen" einer Gleichnisperikope der Tripeltradition beginnt
und von da aus drei verschiedene Modelle prüft. Wer dennoch lieber
vom Modell ausgeht, muss dafür sicherstellen, dass möglichst
alle Argumente dafür und dagegen auch zur Kenntnis genommen werden.
Das ist für die TH genauso wichtig wie für die Zweiquellentheorie.
f) Kritiker der TH haben die Aufgabe, sich ernsthafter
mit ihr auseinanderzusetzen, als sie nur pauschal mit dem Hinweis auf bestimmte
Phänomene abzulehnen, für die schon längst eine oder mehrere
Lösungen angeboten werden. Es müssen also auch weiter Argumente
gegen die TH zusammengetragen werden, denn wOrqfxjwA
w=h('r"-)bfw= wObyrIb; NwO#O)rIhf qydIca (Spr 18,17). Das
gilt in beide Richtungen.
g) Wir sollten eine Domain www.traditionshypothese.de
einrichten, auf der die Argumente für und gegen eine Traditionshypothese
weiter systematisch gesammelt werden. Unterkategorien wie interne Evidenz,
historische Überlegungen und diesen wiederum untergeordnete Argumente
können sehr gut in entsprechenden Subdomains (z. B. www.traditionshypothese.de/extern/lukas)
untergebracht werden. Mails an den Webmaster können zur Korrektur
und Ergänzung der Argumente dienen. Die Zweiquellentheorie, die Griesbach-
und die Farrerhypothese u. a.302 sind schon im Internet - warum
nicht auch die Traditionshypothese?
302 Eine Einführung für Studenten aus der Sicht der Zweiquellentheorie gibt es unter www.religion.rutgers.edu/nt/primer (5.3.01). Online-Artikel von Farrer, Goulder, Goodacre usw. sind zu finden unter "The Synoptic Problem and Q: Articles", www.ntgateway.com/synoptic/articles.htm (5.3.01). Zur Griesbachhypothese kann "A Catalogue of Resources for the Study of the Two-Gospel Hypothesis", www.colby.edu/rel/2gh/catalog.html (5.3.01) zu Rate gezogen werden. Vgl. außerdem die "Greek Notes Hypothesis", die Brian E. Wilson 1999 beim SBL International Meeting vorstellte und Ähnlichkeiten zur Urevangeliumshypothese hat ("The Greek Notes Hypothesis and The Logia Translation Hypothesis Homepage", www.twonh.demon.co.uk (5.3.01)). Zukunftsweisend ist auch die von Mark Goodacre betreute Mailing List zur synoptischen Frage "Synoptic-L" (groups.yahoo.com/group/synoptic-l (5.3.01)) mit bis jetzt über 5000 Diskussionsbeiträgen.
[Top]
Die TH, die seit 20 Jahren wieder von einer kleinen
Minderheit von Forschern vertreten wird (Kapitel 2), kann in verschiedenen
Bereichen gute Argumente vorbringen (Kapitel 3), die bisher kaum zur Kenntnis
genommen wurden (Kapitel 4). Es ist also notwendig, dass von neuem eine
wirkliche Diskussion über die TH einsetzt (Kapitel 5).
In Kapitel 2 wurden die neueren Vertreter
der TH dargestellt. Nach einem stetigen Rückgang der TH im 20. Jahrhundert
sind seit Ende der 1970er Jahre immer wieder vereinzelte Versuche zu beobachten,
die TH wiederzubeleben. Es handelt sich insgesamt nur um eine kleine Zahl
von Forschern, die sich untereinander kaum wahrnehmen und die ausgesprochen
unterschiedliche, einseitige Argumentationsansätze haben. Eine "reine"
TH kommt bei ihnen nur selten vor; oft wird z. B. auch die Existenz von
Notizen bejaht.
Aus ihnen wurden vier wichtige Vertreter ausgewählt
und ihre Argumentationen und Modelle ausführlicher beschrieben. Rist
will durch Einzeluntersuchungen nachweisen, dass eine redaktionelle Bearbeitung
des MkEv durch Mt (und umgekehrt) unwahrscheinlich ist. Reicke geht es
speziell um die Stoffreihenfolge sowie um die historische Einordnung seines
Modells in die damalige urkirchliche Situation. Er trennt eine feste mündliche
narrative Dreiertradition von der hauptsächlich didaktischen Zweiertradition.
Wenham macht Parallelperikopen unterschiedlicher Herkunft ausfindig und
untersucht die Kirchenväterzeugnisse; er nimmt eine literarische Abhängigkeit
für die Reihenfolge der Perikopen an. Linnemann befasst sich vorrangig
mit Wortlautübereinstimmungen zwischen den Synoptikern. Alle diese
Ansätze werden verwendet, um eine literarische Abhängigkeit der
Evangelien zu widerlegen.
Gebündelt entfalten diese Begründungen
durchaus eine nicht zu verachtende Argumentationskraft (Kapitel 3).
Der Lukasprolog wurde schon recht ausgiebig bearbeitet und scheint eine
TH deutlich zu unterstützen. Die Aussagen der Kirchenväter passen
ebenfalls sehr gut zur TH, eine Benutzungshypothese oder Markuspriorität
liegt ihnen fern. Der hohe Anteil an gemeinsamen Perikopen, die ähnliche
Reihenfolge und die Wortlautübereinstimmungen können auf eine
durch Wiederholung gefestigte mündliche Tradition zurückgeführt
werden. Das Vorkommen von Doppelüberlieferungstexten, kleineren Überhängen
und inhaltlich verwandter Passagen mit ganz anderem Wortlaut sind dagegen
Argumente gegen die Zweiquellentheorie. Außerdem können besonders
die Variabilität der Wortlautübereinstimmungen, nicht redaktionell
erklärbare Änderungen sowie der Vergleich mit der recht einfachen
Redaktionsarbeit in der Antike gegen die Zweiquellentheorie vorgebracht
wer-
den. Bei der Frage nach der historischen Plausibilität der TH wurde
festgehalten, dass es eine apostolisch bestimmte, mündliche griechische
Tradition des Lebens Jesu gab und dass die Tradition durch Auswendiglernen,
Notizen und/oder häufige Wiederholung des Stoffes eine recht feste
Form annahm. Auf diese feste Tradition konnten die Evangelisten noch zurückgreifen,
und weil sie auch mündliche, zuverlässige Quellen schriftlichen
vorzogen, verfassten sie ihre Evangelien auf der Basis der mündlichen
Überlieferung.
Gegen die TH werden wohl aus Unkenntnis ihrer Argumente
zumeist Dinge eingewendet (Kapitel 4), für die sie bereits
Erklärungen anbietet. Man nennt den Lukasprolog, die gemeinsame Stoffanordnung
und besonders den übereinstimmenden Wortlaut. Nicht zuletzt weist
man zur Begründung einer literarischen Abhängigkeit auch auf
die Ergebnisse der Redaktionsgeschichte hin. Schmithals stellt außerdem
die mündliche Tradition ganz in Frage, ist damit aber eine Ausnahme.
Darüber hinaus werden Zweifel an einem Auswendiglernen der Worte Jesu
geäußert. Von der TH kaum beachtet sind die Einwände, die
die Andersartigkeit des JohEv und die gemeinsamen Parenthesen bei den Synoptikern
betreffen.
In Kapitel 5 wird deutlich, dass nie ein
wirklicher Dialog zustandekam. Von Seiten der TH versuchte man, die typischen
Kritikpunkte zu entkräften, doch werden ihre Argumente nicht oder
nur unvollständig wahrgenommen. Denn solange sich eine Alternative
nicht wirklich bemerkbar macht, braucht man ihr auch nicht viel Aufmerksamkeit
widmen. Von den Argumenten, die bisher noch gar nicht auf der Seite der
Kritiker angekommen sind, scheinen mir der Lukasprolog, die Unterschiede
in der Wortlautübereinstimmung und die an der Stilisierung erkennbare
Wiederholung besonders wichtig zu sein.
Die TH muss also genau sagen können, was ihre Argumente sind, denn viele kennen sie nicht ausreichend. Sie braucht sich mit ihren Begründungen m. E. nicht verstecken. Entsprechend steht auch eine umfassende, gründliche Antwort von Seiten der Zweiquellentheorie auf die Argumente der TH noch aus. Eines steht jedenfalls fest: Die TH hat ein solche Menge an guten Argumenten hinter sich, dass sie nicht mit wenigen Sätzen in einer Rezension oder NT-Einleitung abgetan werden kann.
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