[Übersicht zu Frederic Godet: Einleitung in das Neue Testament]
K a p i t e l I. Die Entstehung der Sammlung der vier kanonischen
Evangelien (S. 1)
...
K a p i t e l II. Das Evangelium des Matthäus (S. 69)
...
K a p i t e l III. Das Evangelium des Markus (S. 165)
...
K a p i t e l IV. Das Evangelium des Lukas (S. 225)
...
K a p i t e l V. Das Verhältnis der synoptischen Evangelien
zu einander (S. 339)
I. Das Problem (S. 339)
II. Die Geschichte der Diskussion
(S. 340)
A. Bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts (S. 340)
B. Die erste Hälfte
des 19. Jahrhunderts (S. 342)
C. Die zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts (S. 348)
III. Das System der gegenseitigen
Abhängigkeit (S. 365)
1. Ist Matthäus unter Benutzung des Markus,
des Lukas oder beider verfaßt? (S. 366)
2. Ist Markus mit Hülfe des Matthäus,
des Lukas oder beider verfaßt? (S. 378)
3. Ist Lukas in Abhängigkeit von Matthäus,
Markus oder beiden verfaßt? (S. 383)
IV. Die Theorie der gemeinsamen Quellen (S. 394)
1. Vereinzelte Abhandlungen (S. 394)
2. Die Logia des Matthäus (S. 394)
3. Der Urmarkus (S. 397)
4. Das aramäische Urevangelium (S. 399)
5. Die Zweiquellentheorie (S. 403)
V. Die apostolische Tradition
(S. 410)
1. Die aramäische
Urtradition (S. 410)
2. Die mündliche
Tradition in griechischer Sprache (S. 413)
3. Die ersten Redaktionen
(S. 414)
4. Die Abfassung
unsrer Evangelien (S. 415)
5. Einwände (S.
418)
S ch l u ß (S. 426)
Einleitung
in das
N e u e T e st a m e n t
von
F. Godet,
Doktor und Professor der Theologie in Neuchâtel.
Spezielle Einleitung.
Zweiter Band:
Die Evangelien und die Apostelgeschichte.
Erste Abtheilung:
Die drei ersten Evangelien.
Deutsch bearbeitet
von
Dr. E. Reineck,
Superintendent in Heldrungen.
Hannover.
V e r l a g v o n C a r l M e y e r.
(Gustav Prior.)
1905.
F ü n f t e s K a p i t e l.
Das Verhältnis der synoptischen Evangelien zu
einander.
Unter unsern vier Evangelien sind drei, die ein sehr
deutliches Verwandschaftsverhältnis aufweisen. Der allgemeine Gang
ihrer Erzählung ist ähnlich; sie bestehen aus zwei Hauptmassen,
dem Bericht über Jesu Thätigkeit in Galiläa und dem über
seinen Aufenthalt in Jerusalem. Die benutzten Stoffe (Thaten und Reden)
sind ziemlich dieselben, obwohl jeder der drei Schriften eigenes besitzt,
und ihre Reihenfolge ist ebenfalls großentheils dieselbe; endlich
bietet die Erzählung vielfach völlig gleichlautende Ausdrücke,
so daß ein Bericht von dem andern abgeschrieben zu sein scheint.
Daher der Parallelismus dieser drei Schriften, um deswillen sie seit Griesbach
den Namen Synoptiker tragen.
So nahe Verwandtschaft führt natürlich
dazu, ein litterarisches Abhängigkeitsverhältnis unter ihnen
zu vermuten. Andrerseits fallen die Unterschiede zwischen diesen Schriften
ebenso in die Augen wie ihre Übereinstimmung. Die Reihenfolge der
Berichte über die galiläische Wirksamkeit wird im ersten Evangelium,
wie wir gesehen haben, durch eine Sachordnung bestimmt. Im zweiten stellt
die Erzählung eine Reihe von Reisen dar, die von Kapernaum ausgehen
und sich dann immer weiter ausdehnen bis zur letzten, die Jesum nach Jerusalem
führt. Der Gang im dritten Evangelium unterscheidet sich von dem der
beiden ersten sehr bedeutend dadurch, daß zwischen die galiläische
Wirksamkeit und die Ankunft in Jerusalem ein langer Reisebericht eingeschaltet
wird, der neun Kapitel, mehr als ein Drittel der Schrift, umfaßt.
Was die verwendeten Stoffe betrifft, so enthält Markus mehr Thatsachen
als Reden, Matthäus zeichnet sich durch die großen Redegruppen
aus, die auf verschiedene Stellen der Erzählung verteilt sind, während
Lukas zum Teil dieselben Lehrreden bringt, aber sie einzeln an besondere
Veranlassungen anknüpft und eine große Anzahl anderer sehr wichtiger
zufügt, die bei Matthäus wie auch bei Markus fehlen. Bisweilen
bringt die Verschiedenheit des Contextes eine völlige Verschiedenheit
des Sinnes mit sich (vergl. z. B. Matth. 5, 25-26 mit Luk. 12, 58-59).
In der Erzählung selbst kommen Differenzen vor, die sich nicht selten
zum Widerspruch zu steigern scheinen. Die Beispiele dafür sind zu
zahlreich, als daß es nötig wäre, solche anzuführen.
Die Anordnung der Thatsachen und Thatsachengruppen stimmt gewöhnlich
überein, es kommen aber auch bedeutende Umstellungen vor. Auch da
endlich, wo der Text gleichlautend ist, wir diese Übereinstimmung
plötzlich unterbrochen, entweder durch ganz unbedeutende Änderungen
im Ausdruck, deren Zweck nicht erkennbar ist (z. B. im Gleichnis vom Säemann,
wenn der eine Evangelist, um die Grade der Fruchtbarkeit zu bezeichnen,
sagt: "hundert=, sechzig=, dreißigfältig", der andre: "dreißig=,
sechzig=, hundertfältig", während der dritte diesen Zug ganz
wegläßt), oder durch sehr bezeichnende Varianten, wie wenn Markus
sagt:
"Nehmet nichts als einen Stab", Matthäus und Lukas: "Nehmet nichts,
auch keinen Stab", oder wenn Lukas im Gebet des Herrn die dritte und sechste
Bitte ausläßt und bei der vierten die Worte: "an jedem Tage"
hinzufügt, oder aber wenn Matthäus Jesum in der Bergpredigt sagen
läßt: "Selig sind die Armen im Geiste", während Lukas nur
hat: "Selig, ihr Armen".
Abweichungen solcher Art sind zahlreich. Bei der
Voraussetzung einer litterarischen Abhängigkeit eines Evangeliums
vom andern machen sie, wenn sie unerheblich sind, den Eindruck einer Spielerei,
wenn sie aber den Sinn ändern, den eines beabsichtigten Gegensatzes.
Wie sind bei der Annahme der Unabhängigkeit
von einander die Ähnlichkeiten, bei der einer gegenseitigen Abhängigkeit
die Unterschiede zu erklären? Das ist das Problem. Keine Litteratur
bietet etwas Ähnliches dar. Seit mehr als einem Jahrhundert hat die
Kritik, um die Lösung zu finden, eine Summe von Arbeit und Scharfsinn
aufgewandt, von der man sich schwer einen Begriff macht. Bei dem Bericht
über diese lange Reihe von Versuchen, die bisher nicht im geringsten
zu einer allgemeinen Verständigung geführt haben, werden wir
nur die Arbeiten ausführlicher besprechen, die der Discussion neue
Momente zugeführt haben, während die andern, ohne Anspruch auf
Vollständigkeit, die übrigens unmöglich wäre, kurz
erwähnt werden sollen.
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1) Siehe S. 30 sein Zeugnis, welches
das des "Presbyters" anführt.
2) Erst 1784 nach seinem Tode veröffentlicht
(ed. Lachmann, Bd. XI).
laufende Behandlung des Problems. Die erste evangelische Redaktion geht
nach Lessing unsern Evangelien voraus; denn die palästinensische Kirche
konnte unmöglich 30 Jahre ohne schriftliche Aufzeichnung des Lebens
Jesu bleiben. Diese Schrift, das sogenannte Evangelium "der Nazaräer"
oder "der zwölf Apostel" oder auch "des Matthäus" (diesem Apostel
schrieb man es zu), bestand in einer Sammlung einzelner Erzählungen,
die als solche Zusätze der Abschreiber oder Leser zuließ, welche
glaubwürdige Nachrichten zu besitzen meinten. Aramäisch abgefaßt,
wurde sie ins Griechische übersetzt, sobald sich das Evangelium in
der Heidenwelt auszubreiten begann. Matthäus, der mehr als die andern
Apostel gewohnt war, die Feder zu führen, fertigte die erste Übersetzung
davon an, andre entstanden später (Luk. 1, 1), unter andern die des
Markus nach einer weniger vollständigen Handschrift, und die des Lukas,
die sich durch einen sorgfältigeren griechischen Stil auszeichnet.
Unsre Evangelien sind demnach aus einer einzigen Wurzel entsprossen, dem
palästinensischen Urevangelium.
Einige Jahre später nahm S t o r r 1)
den Gedanken, den schon K o p p e in einem Programm von 1782
ausgesprochen hatte, wieder auf, wonach Markus keineswegs von Matthäus
abhängig, vielmehr die Quelle der beiden andern Synoptiker wäre;
er hätte für die Gemeinden Syriens geschrieben, die sich nach
der Verfolgung der Gemeinde zu Jerusalem bildeten, und zwar auf der Grundlage
der Berichte des Petrus. Er könne nicht aus Matthäus geschöpft
haben, denn einerseits läßt er zu viele wichtige Stücke
aus, die dieser hat, andrerseits ist das, was er hinzufügt, so unbedeutend,
daß man nicht recht weiß, wozu ihm die Erzählungen des
Petrus gedient haben sollten. Seine Schrift ließ unter den Christen
Palästinas den Wunsch entstehen, etwas Ähnliches in ihrer eignen
Sprache zu besitzen, daher die aramäische Schrift des Apostels Matthäus,
von der Übersetzungen in verschiedener Form entstanden. Unser erstes
kanonisches Evangelium ist eine genauere Übersetzung, zu der ihr Verfasser
sich auch des Markus- und des Lukasevangeliums bediente. Dieses, in Rom
verfaßt, hat das des Markus zur Grundlage, und Lukas bereicherte
es durch Erkundigungen, die er in Jerusalem bei Augenzeugen eingezogen
hatte. Sein Vorwort spielt auf ungenaue Zuthaten an, mit denen man den
apostolischen Matthäus überlastet hatte.
G r i e s b a ch 2) nahm bald darauf
seinen Standpunkt im Gegensatz zu dem Storrs. Er ließ Markus nicht
nur, wie Augustinus, von Matthäus, sondern auch von Lukas abhängen.
In seiner S y n o p s i s (1797) wies er auf mehrere Stellen
hin, wo Markus zwei Ausdrücke vereinigt, deren einer Matthäus,
der andre Lukas entlehnt ist. Er glaubte nachgewiesen zu haben, daß
Markus da, wo er dem Matthäus folgt, dessen Reihenfolge unverändert
beibehält, während er sich da, wo er ihn verläßt,
an Lukas anschließt.
Von einem ganz andern Gesichtspunkte wurde die Frage
von H e r d e r 3) wieder aufgenommen auf einem Wege,
den bereits E ck e r m a n n in seinen T h e o l o g
i s ch e n B e i t r ä g e n betreten hatte. Danach ist
der gemeinsame Ausgangspunkt unsrer Synoptiker "ein ungeschriebenes Urevangelium",
eine Art Abriß der evangelischen Erzählung, die unter den Augen
der Apostel entstand und den Predigten der Evangelisten als Leitfaden dienen
sollte. Dieser zunächst mündlich verbreitete Erzählungstypus
erklärt besser als ein geschriebenes Urevangelium (wie das Lessings)
sowohl die gemeinsame Grundlage, als auch die Verschiedenheiten unsrer
drei Synoptiker, die aus dieser volkstümlichen Evan=
1) Ü b e r d e n
Z w e ck d e r e v a n g. G e s ch i ch t e u n
d d e r B r i e f e J o h a n n i s, 1786.
2) C o m m e n t a t i o
q u a M a r c i e v a n g e l i u m t o t u m e
M a t t h ä i e t L u c a e c o m m e n t a r i
i s d e c e r p t u m e s s e m o n s t r a t u r,
1789.
3) V o m E r l ö
s e r d e r M e n s ch e n n a ch d e n d
r e i e r st e n E v a n g e l i e n, 1796.
gelisation frei hervorgingen. Die Evangelisten sind keine Abschreiber,
die Bruchstücke von Urkunden mühselig zusammenstellen, vergleichen
und aneinander flicken; dergleichen entspricht weder der Abfassungsart
alter Schriften noch dem Charakter unsrer Evangelien. In den Abweichungen
ihrer Berichte erkennt man vielmehr die der mündlichen Tradition eigne
Freiheit. Dies ist besonders bei Markus der Fall, in dessen Erzählung
man noch die lebensvollen Berichte des Petrus zu vernehmen glaubt. Seine
Schrift ist es, die das ursprüngliche aramäische Evangelium am
genauesten wiedergiebt. Lukas hat die besonderen Erkundigungen, die er
eingezogen hatte, mit der allgemeinen mündlichen Tradition verschmolzen.
Matthäus beschränkt sich nicht darauf, die sehr vollständige
aramäische Redaktion, die um das Jahr 60 von der apostolischen Überlieferung
angefertigt wurde, zu übersetzen; sein Stil ist nicht der einer Übersetzung,
sondern einer eigenen Arbeit.
In jener Zeit wurde infolge der Arbeiten Wolffs
viel von den homerischen Sängern geredet, die aus den Schulen von
Chios und Kleinasien hervorgegangen die Städte Griechenlands durchzogen
und die Thaten des trojanischen Krieges besangen. So erschienen Herder
die ersten Evangelisten, die die apostolischen Berichte gehört hatten
und die Wunder des Lebens Christi in einer bestimmten Fassung den Gemeinden
vortrugen. Seine Gedanken, die anfangs auf dürren Boden fielen, fanden
später gerechtere Würdigung.
So war der Feldzug eröffnet, die verschiedenen
Scharen der Kämpfer auf den Plan getreten: die vereinzelten Erzählungen
Le Clercs, das aramäische Evangelium Lessings, die Benutzung von einem
oder von zwei Synoptikern durch die beiden andern oder durch den dritten
(Grotius, Storr, Griesbach), die mündliche Überlieferung Herders.
In den Streit hatten sich viele andre Schriftsteller gemischt, die wir
nicht genannt haben. M i l l (1707), W e t st e i n
(1730), B e n g e l (1736), T o w n s o n (übersetzt
von Semler, 1783), schlossen sich dem Gedanken Grotius' an, N i e
m e y e r (1790) dem Lessings; S e m l e r hatte von
mehreren aramäischen Redaktionen gesprochen, einige hatten der von
Storr behaupteten Priorität des Markus die des Lukas gegenübergestellt,
so O w e n (1764), B ü s ch i n g (1766),
E v a n s o n (1792) und V o g e l (1804).
B. D i e e r st e
H ä l f t e d e s 19. J a h r h u n d e r t s.
In dieser Periode scheinen mir aus der Menge der
Schriftsteller, die sich mit unserer Frage beschäftigt haben, vier
Namen besonders hervorzutreten: Eichhorn, Gieseler, Schleiermacher und
Weiße, zwischen denen natürlich zahlreiche Männer stehen,
deren Bedeutung ich nicht herabsetzen möchte. Man wird sehen, daß
die einen wie die andern eigentlich nur die Grundzüge der Lösung,
wie sie in der vorigen Periode aufgestellt wurden, wieder aufnehmen, verteidigen
und näher bestimmen.
Die erste gründliche Erforschung des Problems
wurde durch E i ch h o r n 1) veranstaltet. Indem er wie
Lessing eine aramäische Schrift vor unsern Synoptikern annimmt, behauptet
er doch nicht, wie jener, einen anonymen Ursprung derselben. Dieses Urevangelium,
das öffentliche Gültigkeit haben und den Evangelisten als Führer
dienen sollte, wäre vielmehr von einem Schüler der Apostel und
unter ihrer Leitung abgefaßt worden. Um es wiederherzustellen, brauche
man nur die 44 Abschnitte zusammenzustellen, die die gemeinsame Grundlage
unsrer drei Synoptiker bilden. Eichhorn erklärt so die Ähnlichkeiten
dieser drei Schriften ziemlich leicht, aber woher kommen die Abweichungen?
1) In einer Abhandlung aus dem Jahre 1794, dann vollständiger in seiner E i n l e i t u n g (1804).
und wie sind die gemeinsamen griechischen Ausdrücke bei einer aramäischen
Quelle zu verstehen? Um dieses zweifache Bedenken zu heben, nimmt Eichhorn
eine griechische Übersetzung an, die nach und nach verschiedentlich
umgearbeitet und durch viele Zusätze erweitert worden wäre und
sehr verschiedene Formen angenommen hätte, die durch alle möglichen
Verbindungen fast ins Unendliche vermehrt worden wären, - unter diesen
von einander abweichenden Formen sei sie von unsern Evangelisten benutzt
worden. 1) Diese gekünstelte Hypothese hatte einige Jahre
hindurch großen Erfolg. In noch mehr gekünstelter Form wurde
sie von H. M a r s h dargeboten, dann einfacher von G
r a tz (1812), der von Eichhorn darin abweicht, daß er Markus
vor Matthäus setzt. K u i n o e l, B e r t h o l d t
und andre schlossen sich dem an. Bald jedoch begann man sich zu fragen,
ob unsere Evangelisten wirklich die verschiedenen Stücke aus einer
ganzen Reihe von Urkunden entlehnt und Satz für Satz aneinander gereiht
haben sollten. Wie wären übrigens die Unterschiede in den gemeinsamen
Berichten zu erklären, wenn die zu Grunde liegende Haupturkunde ausführlich
genug war, um wörtliche Übereinstimmung unter den Evangelien
herbeizuführen? War sie hingegen nur ein einfacher Entwurf, der, wie
Schleiermacher sagt, eigentlich nur eine Inhaltsangabe enthielt, wie wäre
dann eine so große Übereinstimmung unsrer drei Texte im einzelnen
möglich? Wie sollte endlich eine so wichtige Urkunde keinerlei Spur
in der Erinnerung der Gemeinde zurückgelassen haben?
Das Gewicht dieser Gründe machte sich fühlbar.
Im Jahre 1808 kehrte der katholische Theologe H u g in seiner
E i n l e i t u n g z u m N e u e n T e st a m e n t
zu der Auffassung Augustins zurück, wonach die Reihenfolge der Evangelien
im Kanon ihrem Erscheinen entsprach und den Einfluß andeutete, den
das eine auf das andre geübt hatte. Matthäus ist die erste Quelle,
Markus hat einen Auszug daraus gegeben, den er durch die Erzählungen
des Petrus ergänzte, Lukas hat beide verbunden, indem er Markus hinsichtlich
der Folge und der Einzelheiten der Handlung nachging, Matthäus hinsichtlich
der Reden; ebenso hat er aus den Werken geschöpft, die er in seinem
Vorwort erwähnt, und unter denen sich außer Markus und Matthäus
andre evangelische Schriften befanden. - Kann dieses System die Verschiedenheit
zwischen den drei Berichten erklären, die bisweilen sich bis zum Gegensatz
steigert?
S ch l e i e r m a ch e r erklärte
in einer Arbeit 2), die 1817 erschien, die Entstehung des dritten
Evangeliums aus der Verbindung einer großen Zahl kleiner Schriften,
die gewisse Züge oder Reden aus dem Leben Jesu erzählten. Ist
es nicht natürlicher, die evangelische Litteratur mit kleinen Aufsätzen
von der Hand verschiedener Verfasser beginnen zu lassen, die sich darauf
beschränkten, den Bericht eines einzelnen Vorgangs, dem sie beigewohnt,
oder einer Rede, die sie gehört hatten, niederzuschreiben, als eine
mehr oder minder vollständige Erzählung zum Ausgangspunkt zu
nehmen? Während also Eichhorn von der Einheit ausging, um zum Verschiedenen
zu gelangen, schlug Schleiermacher den umgekehrten Weg ein. Er sieht in
unsern Synoptikern die Verbindung einer Menge solcher "Diegesen" 3)
oder ursprünglicher Aufzeichnungen und behauptet, daß sich daraus
sowohl die Abweichungen als auch die Übereinstimmung unter ihnen erklären.
Er gründete seinen Beweis auf eine genaue Analyse des Lukas, hat aber
für die beiden andern diese Arbeit niemals ausgeführt. Wenn seine
Forschung über Lukas in der Wissenschaft keinen Anklang fand, so hat
1) Bei Lukas, dem letzten der drei,
kam man bis zu zwölf Urkunden, die er benutzt haben sollte.
2) Über die Schriften des Lukas.
3) Lukas 1, 1.
dies wohl seinen Grund darin, daß die in dieser Schrift so deutliche
Einheit des Plans und des Stils solche mosaikartige Entstehung wenig wahrscheinlich
machte. Nichtsdestoweniger kam diese Art, die Anfänge der evangelischen
Litteratur aufzufassen, dem natürlichen Verlauf näher, als die
gekünstelte Hypothese des "Urevangeliums". Wir werden übrigens
dem Einfluß dieses Gelehrten bei Gelegenheit seiner späteren
Arbeit über Matthäus und Markus wieder begegnen, wo er viel entscheidender
hervortrat.
Der Hypothese Schleiermachers und Eichhorns,
sowie jedem Gedanken an gemeinsame schriftliche Quellen stellte der Historiker
G i e s e l e r 1) den bereits von Eckermann und Herder angedeuteten
Gedanken eines nur mündlichen Urevangeliums gegenüber. Mündlich,
nicht schriftlich ist die apostolische Thätigkeit geübt worden,
das beweisen die Ausdrücke
khru/ssein, eu)aggeli/zesqai
u. a., durch welche die ursprüngliche Evangelisation im N. T. bezeichnet
wird, zur Genüge. Erst später, als die mündliche Erzählung
nicht mehr ausreichte, dachte man daran, sie in den zahlreichen Schriften,
von denen Lukas 1, 1 redet, niederzulegen. Diese Überlieferung, die
nach dem Vorgange der Apostel von den Evangelisten täglich wiederholt
wurde, hatte damals bereits eine abgeschlossene Form angenommen; sie war
sozusagen stereotyp geworden. Die Armut und der Mangel an Geschmeidigkeit
der aramäischen Sprache erleichterte eine solche feststehende Form,
die auch durch die geringe Bildung der einfachen Männer begünstigt
wurde, welche die apostolischen Berichte anspruchslos, so wie sie sie gehört
hatten, wiedergaben. Ferner ist die bilderreiche Form der Aussprüche
Jesu zu beachten, die sich zugleich dem Gewissen, dem Geiste und dem Herzen
unauslöschlich einprägten, sowie die Ehrfurcht, die ihr geheiligter
Charakter einflößte. Dadurch wird es begreiflich, daß
die feststehende Form, die diese Tradition angenommen hatte, unverändert
blieb, als sie niedergeschrieben wurde. Gewisse Reihen von Berichten, die
gewohnheitsmäßig nacheinander erzählt wurden, fanden sich
in den verschiedenen Bearbeitungen ebenso wieder. Gieseler führt teils
aus dem Altertum, teils aus der Welt des Orients eine Menge von Analogien
an, die beweisen, wie da, wo die Schrift noch wenig angewendet wird, das
Gedächtnis eine wunderbare Kraft gewinnt und ausreicht, den Stoff
ganzer Bände und Gedichte von Tausenden von Versen unverändert
zu erhalten. Die mündliche Tradition, die bis in das zweite Jahrhundert
hinein lebendig blieb, aber allmählich in eine griechische Form sich
kleidete, als das Evangelium von den Juden zu den Griechen überging,
hat die gemeinsame Grundlage unsrer synoptischen Schriften abgegeben.
Diese Lösung sicherte der Abfassungsweise der
Evangelien die zur Erklärung sowohl ihrer Ähnlichkeit als auch
ihrer Unterschiede nötige Elasticität und machte die genaue Vergleichung
der Texte im einzelnen überflüssig, deren Ergebnisse immer so
unsicher sind. Aber man bestritt ihr die Möglichkeit, die gleichlautenden
Formen zu erklären, die wir in parallelen Erzählungen oder Reden
so oft finden, oder den gemeinsamen Gebrauch gewisser charakteristischer
griechischer Ausdrücke. Auch that ein Umstand dem Einfluß Abbruch,
den sie hätte üben können; es ist bekannt, wie S t
r a u ß sie in seinem L e b e n J e s u (1835)
verwertete. Zu Gunsten seiner Erklärung der evangelischen Geschichte
als eines Niederschlages vieler mythischer Überlieferungen, die im
Verlaufe eines Jahrhunderts entstanden wären und sich allmählich
angehäuft hätten, zog er die Theorie Gieselers heran. Der Halt,
den sie dieser Hypothese zu gewähren schien, trug nicht dazu bei,
ihr die verdiente Beachtung zu sichern.
Hierher gehört ein zweites Eintreten Schleiermachers,
das entscheidender war als das erste und der kritischen Arbeit eine neue
Richtung gab. In einem Aufsatz in den S t u d i e n u n d
K r i t i k e n 1) machte er zum ersten Male darauf aufmerksam,
daß Papias, wenn er von Matthäus als einer aramäischen
Schrift unter dem Titel ta& Lo/gia,
d i e R e d e n, spricht, nicht unsern kanonischen Matthäus
gemeint haben könne, der griechisch geschrieben ist und vieles andre
enthält als Reden. Papias hatte also von einem andern Werke geredet,
in dem Matthäus die Lehrreden Jesu in ihrer Ursprache gesammelt hatte.
Wie verhielt sich diese apostolische Schrift zu unserm kanonischen Evangelium?
So lautete nun die Frage. Die Beobachtung Schleiermachers traf mit dem
Umstande zusammen, daß kurz vorher S i e f f e r t 2)
durch viele innere Gründe den Nachweis geführt hatte, daß
das erste Evangelium unmöglich dem Apostel Matthäus zugeschrieben
werden könne. Seine Schrift blieb nicht ohne erheblichen Einfluß
auf die synoptische Frage, indem sie dies Evangelium auf dieselbe Stufe
stellte, wie die beiden andern, und eine unparteiischere Prüfung ihres
Verhältnisses ermöglichte. - Zu gleicher Zeit beobachtete Schleiermacher
Ähnliches bei unserm zweiten Evangelium: die von Papias Markus zugeschriebene
Schrift sollte nach ihm ganz verschieden vom 2. Evangelium sein. Papias
spricht von Notizen, die Markus nach den gelegentlichen Erzählungen
des Petrus aufgeschrieben habe, und die demgemäß jeder historischen
Anordnung entbehrten, während das zweite Evangelium eine ebenso wohlgeordnete
Erzählung ist, wie die beiden andern.
So bot sich der Kritik ein ganz neues Feld dar;
sie hatte vergeblich die Lösung des Problems gesucht, sei es durch
die Annahme, den drei Synoptikern liege ein Urevangelium zu Grunde, sei
es durch die Behauptung, ein Evangelium sei von einem der andern oder von
beiden benutzt worden; nun hatte sie zwei Quellen entdeckt, die vielleicht
geeignet waren, die Erklärung sowohl des Gemeinsamen als auch des
Verschiedenen zu geben, nämlich die R e d e n s a m m l u n
g,
die dem Matthäus zugeschrieben wird, und den U r m a r k u s,
ein Werk des Schülers des Petrus, älter als das Evangelium, das
seinen Namen trägt.
Bald darauf suchte L a ch m a n n in
einem sehr beachtenswerten Aufsatz 3) darzuthun, daß die
mündliche Überlieferung, die Quelle unsrer Synoptiker, nicht
unmittelbar in diese Schriften übergegangen sei; auf die Zeit der
vereinzelten Erzählungen, von der Schleiermacher 4) geredet
hatte, ließ er eine Zeit der Gruppierung folgen, in der sich gewisse
Kreise von Erzählungen gebildet hätten, die wir mehr oder weniger
gut erhalten in unsern Evangelien wiederfinden. Diese corpuscula historiae
evangelicae, wie er sie nannte, bildeten eine Zwischenstufe zwischen den
ersten Einzelbearbeitungen und den synoptischen Schriften. Er entdeckte
besonders bei Markus die Spuren von fünf solchen Kreisen, die, wenn
auch mit mancherlei Umstellungen, Zusätzen und Weglassungen, bei Matthäus
und Lukas ebenfalls erscheinen. Er führte sie auf eine von einer bestimmten
Autorität und einer evangelischen Überlieferung festgesetzte
und festgehaltene Anordnung zurück, die älter als die Abfassung
unsrer drei Evangelien war, ohne jedoch entscheiden zu wollen, ob diese
Ordnung schon in einer geschriebenen Urkunde vorlag oder einfach durch
eine gewisse Gewöhnung des Lehrens und Hörens gebildet war.
Nunmehr war die Frucht reif, sie fiel
gleichsam von selbst und gleichzeitig in die Hand von zwei bedeutenden
Kritikern, Credner und Weiße. C r e d n e r
1) Ü b e r d i e
Z e u g n i s s e d e s P a p i a s v o n u n s
e r n b e i d e n e r st e n E v a n g e l i e n
(1832).
2) Ü b e r d e n
U r s p r u n g d e s e r st e n k a n o n. E v
a n g e l i u m s, 1832.
3) S t u d i e n u n d
K r i t i k e n, 1835.
4) Siehe S.
343.
führte in seiner E i n l e i t u n g 1) zu Ende,
worauf die Arbeit Schleiermachers abzielte. Indem er zwischen den einfachen
Umrissen des Markus, der Wiedergabe der Erzählungen des Petrus, und
unserm zweiten Evangelium unterschied, worin diese Umrisse geordnet und
vervollständigt wurden, sah er in dem "Urmarkus" die Hauptquelle für
das Geschichtliche in unsern drei Synoptikern, während die "Logia"
des Apostels Matthäus, von denen Papias geredet hatte, die Quelle
der Reden Jesu war, wie sie sich bei Matthäus und Lukas finden, bei
Markus aber fehlen. Unser erstes Evangelium rührt von einem palästinensischen
Verfasser her, der den apostolischen Matthäus mit dem Urmarkus und
der mündlichen Tradition verband. Lukas erklärt selbst, sich
älterer Schriften bedient zu haben; zu diesen gehören natürlich
die Logia und der Urmarkus, vielleicht auch schon die beiden ersten kanonischen
Evangelien; außerdem schöpft er aus der Tradition und bewahrt
so seine Freiheit und Eigenart seinen Vorgängern gegenüber. -
W e i ß e 2) trennte sich von Schleiermacher und Credner
durch die Behauptung, daß das Zeugnis des Papias sich sehr wohl auf
unsern kanonischen Markus anwenden lasse, und durch die gänzliche
Verwerfung des Urmarkus. Er erblickte also in dem aramäischen Matthäus
oder den Logia und in unserm Markus die beiden großen Quellen, aus
denen Lukas und etwas später der kanonische Matthäus hervorgingen.
Durch die gründliche Arbeit W i l k e
s 3), die fast gleichzeitig mit der von Weiße erschien,
gewann das Ergebnis, zu dem Credner und Weiße (mit dem Unterschiede,
den wir hinsichtlich der Urmarkushypothese angegeben haben) gelangt waren,
die Ursprünglichkeit des Markus und die Benutzung seiner Schrift durch
die beiden andern Synoptiker, zunächst durch Lukas, dann durch Matthäus
- der nach Wilke auch von Lukas abhängig sein soll - einen neuen Stützpunkt.
Die Abweichungen zwischen den drei Texten schrieb Wilke teils der Eigenart
der Evangelisten zu, teils ihrer absichtlichen Überlegung und den
von ihnen aufgenommenen legendenhaften Zuthaten. Er bahnte so der Kritik
der Tübinger Schule den Weg.
Nach ihnen trieb B r u n o B a u e r
4)
den Gedanken der Priorität des Markus auf die Spitze; die evangelische
Geschichte, die er erzählt, ist eigene Schöpfung des Verfassers.
Bald darauf stellte H a s e r t, der "sächsische Anonymus"
unsre Synoptiker und ihre Eigentümlichkeiten als das Produkt des heftigen
und rein persönlichen Kampfes zwischen den Aposteln Petrus und Paulus
dar.
Wichtiger war die Schrift von R e u ß
über die neutestamentliche Litteratur 5). Darin wie später
in seiner Einleitung zur Erklärung der Evangelien 6) hat
Reuß die Zweiquellenhypothese, wie Credner sie formuliert hatte,
in meisterhafter Weise verteidigt. Die mündliche Überlieferung,
wie die Apostel sie in Umlauf gesetzt hatten, fing an, eine festere Gestalt
anzunehmen, als man nach und nach die Augenzeugen verschwinden sah. Die
ersten Aufzeichnungen waren keine vollständigen Evangelien; Hörer
sammelten ihre Erinnerungen, schrieben sie auf (Lukas 1, 1) und vervollständigten
sie dann durch weitere Erkundigungen. Dies wurde der Übergang zur
Abfassung der vollständigeren Schriften unsrer Synoptiker. Markus
war der erste unter ihnen; denn die Anordnung der Erzählung bei den
beiden andern ruht auf der seinen, bei Lukas ganz und gar, bei Matthäus
von Kap. 14 ab. Aber diese Anordnung war nach der Bemerkung des Papias
in der Urschrift des Markus nicht so vollständig wie
1) E i n l. i n d
a s N. T., 1836.
2) D i e e v a n g.
G e s ch i ch t e, 1838; dann d i e E v a n g e l i e
n f r a g e, 1856.
3) D e r U r e v a n g
e l i s t, 1838.
4) K r i t i k d e r
e v a n g. G e s ch. d e r S y n o p t i k e r,
1841.
5) G e s ch i ch t e d
e r h e i l. S ch r i f t e n N. T., 1842.
6) L a B i b l e,
N. T. I (1876), S. 3-112.
im kanonischen Markus. Im Urmarkus fehlte der Eingang des jetzigen Evangeliums
(1, 1-15), der offenbar nur ein Auszug aus den beiden andern Evangelien
ist, und die Geschichte des Leidens und der Auferstehung; denn der Bericht
des Lukas weicht darin so sehr von Markus ab, daß man nicht annehmen
kann, er habe diesen Teil des Markus vor Augen gehabt; er ist da einer
andern Quelle gefolgt. Ebensowenig lassen sich die großen Lehrreden
Jesu, die einen so bedeutenden Teil des Matthäus und Lukas ausmachen,
von Markus herleiten. Sollte Lukas sie aus Matthäus entnommen haben?
Nein, denn sie erschienen bei ihm in einzelnen Stücken, während
sie bei Matthäus große zusammenhängende Abschnitte bilden.
Außerdem beweisen die Widersprüche beider Berichte über
die Geburt Jesu, daß Lukas Matthäus nicht gekannt hat. Man muß
also hinsichtlich der Reden auf eine zweite gemeinsame Quelle zurückgehen,
die nur die Logia des Apostels Matthäus sein können; nur muß
dabei angenommen werden, daß die Ausgabe dieser Schrift, die Lukas
in Händen hatte, eine ganz andre Form besaß, als die, deren
sich der Verfasser unsers kanonischen Matthäus bediente.
Diese Übersicht über die Arbeit von Reuß
giebt zugleich auch den Hauptinhalt mehrerer französischer Schriften
an, die seitdem erschienen sind, und die wir hier vorgreifend erwähnen.
Es sind die von A. R é v i l l e 1) (ein Urmarkus
wenig verschieden von unserm Markus, der nur einige Zusätze mehr hat);
M i ch. N i c o l a s 2) (Markus hat als Urmarkus Matthäus
und wahrscheinlich auch Lukas als Führer gedient und dann durch Entlehnung
aus beiden seine jetzige Gestalt erhalten); E. d e P r e s
s e n s é 3) (das Markusevangelium, aus den Erzählungen
des Petrus hervorgegangen, ist keineswegs ein Auszug aus den beiden andern,
sondern dient ihnen eher als Quelle. Matthäus ist eine sehr freie
Übersetzung, ein "zweites Original" des aramäischen Matthäus.
Lukas hat Markus benutzt und trifft durch ihn vermittelt mit Matthäus
zusammen, den er nicht kannte, auch hat er die Logia benutzt); G.
M e y e r 4) (die aramäische Redensammlung zum Schutz der
Kirche vor pharisäischem Formalismus, der griechische Urmarkus, dazu
bestimmt, die apostolische Tradition in ihrer ursprünglichen Reinheit
zu bewahren; aus beiden geht der kanonische Matthäus hervor, der erklären
sollte, warum Jesus, der Messias, von den Juden verworfen wurde, und diese
auf die ihnen drohende Gefahr hinweisen; Lukas ist der Vorkämpfer
des christlichen Universalismus, endlich Markus, von unbekannter Hand nach
dem Erscheinen des Johannesevangeliums vervollständigt; so kam die
synoptische Entwickelung zum Abschluß); S a b a t i e r 5)
(kein Urmarkus, Markus als Wiedergabe der Tradition in ihrer einfachsten
Form nach den Mitteilungen des Petrus, die Logia als zweite Quelle des
ersten und dritten Evangeliums neben Markus in Umlauf, Lukas hat außerdem
seine besonderen Quellen). H. L u t t e r o t h 6) nimmt
eine Sonderstellung ein; er lehnt nicht nur den Urmarkus ab, sondern auch
den Urmatthäus (die Logia) auf Grund der Zeugnisse des Eusebius und
Irenäus, die nichts der Art vermutet haben. Unser erstes Evangelium
wurde früh (um 44) in Palästina verfaßt, zuerst hebräisch,
dann griechisch, entweder von Matthäus selbst oder einem andern, Markus
schrieb zu Rom, Lukas viel später; er hatte den griechischen Matthäus
vor Augen und behielt dessen Rahmen bei.
1) É t u d e s c
r i t i q u e s s u r l ' é v a n g i l e s e
l o n S t. M a t t h i e u, 1862.
2) É t u d e s
c r i t i q u e s s u r l e N. T., 1862.
3) J é s u s - C h r
i s t, 1865.
4) L a q u e s t i o n
s y n o p t i q u e, 1878.
5) E v a n g i l e s s
y n o p t i q u e s, in der E n c y c l o p é d i e
d e s s c i e n c e s r e l i g i e u s e s, XI, 1881.
6) E s s a i d ' i n t
e r p r é t a t i o n d e q u e l q u e s p a
r t i e s d e l ' E v a n g i l e d e S t.
M a t t h i e u, 1860-1876.
Ehe wir diese Periode verlassen, nennen wir noch einige Schriften, die, wenn sie auch nichts Neues zu der Frage beibrachten, doch ihren Verlauf beeinflußt haben. In mannigfachem Wechsel hielt d e W e t t e 1) stets an dem von Griesbach aufgestellten Gedanken der Abhängigkeit des Markus von den beiden andern fest; er erklärte die Beziehungen zwischen Lukas und Matthäus aus der mündlichen Überlieferung und aus den Erinnerungen des Lukas, nachdem er Matthäus gelesen hatte. B l e e k 2), dessen E i n l e i t u n g erst nach seinem Tode herauskam, ließ ebenfalls Markus von Lukas und Matthäus abhängen und diese von einem galiläischen Urevangelium, das unserm Markus ziemlich ähnlich war. T h o l u ck 3) widerlegte in überzeugender Weise die Theorie Griesbachs. E b r a r d 4) sah, wie schon Gieseler, in der mündlichen Überlieferung das wahre Mittel der Erklärung des Verhältnisses zwischen den Synoptikern. T h i e r s ch 5) endlich sprach sich auch zu Gunsten der mündlichen Überlieferung aus.
C. D i e z w e i t
e H ä l f t e d e s 1 9. J a h r h u n d e
r t s.
Die Wendung, welche die Kritik kurz vor der Mitte
des Jahrhunderts nahm, wie glänzend und in mancher Hinsicht fruchtbar
sie gewesen sein mag, muß doch in andrer Beziehung als unheilvoll
bezeichnet werden, denn sie brachte einen schädlichen Faktor, den
der "Tendenzkritik", in die Behandlung der Frage, der noch nicht völlig
überwunden ist. Es ist die Periode der Tübinger Schule.
Diese Periode beginnt mit dem Werke S ch w
e g l e r s, der zugleich Schüler und Vorläufer Baurs war:
D a s n a c h a p o st o l i s ch e Z e i t a l t e r
(1846). Nach ihm ist aus dem ebionitischen Urchristentum das Hebräerevangelium
hervorgegangen, dann in abgeschwächter Form das des Matthäus,
im Gegensatz dazu entstand aus dem paulinischen Christentum das Evangelium
des Marcion und in gemilderter Form das des Lukas, die völlige Harmonie
der so abgeschwächten Gegensätze findet sich in Markus verwirklicht.
Das grundlegende Werk F e r d. C h r
i st i a n B a u r s, des Hauptes der Schule: K r i t
i s ch e U n t e r s u ch u n g e n ü b e r d i
e k a n o n i s ch e n E v a n g e l i e n (1847), folgte
alsbald nach. Das Studium der paulinischen Briefe hatte Baur dazu geführt,
einen ausgeprägten Gegensatz der Grundanschauungen zwischen diesem
und den zwölf Aposteln zu behaupten, und er glaubte diesen Gedanken
auf die Erklärung der Abweichungen zwischen unsern Synoptikern anwenden
zu können. Jeder der Evangelisten hätte die Person Jesu unter
der Beleuchtung dargestellt, die seiner Tendenz entsprach. Damit schwand
der Geist der Reinheit und Lauterkeit, den die Kirche stets diesen Schriften
zuerkannt hatte.
Die Aufgabe, die Baur sich gestellt hatte, war nicht
ohne Schwierigkeit. Matthäus, der Vertreter des gesetzlichen und partikularistischen
Geistes der Zwölf, enthielt doch auch manche entschieden universalistische
Stelle, während der Vorkämpfer des paulinischen Spiritualismus,
Lukas, mehrere judaistischen und gesetzlichen Charakters hatte. Wie war
das zu erklären? Baur behauptete, daß wir weder den einen noch
den andern in ihrer ursprünglichen Form besäßen. Der streng
judenchristliche Urmatthäus, der im Grunde nichts andres ist als das
Evangelium der Hebräer, von dem die Väter reden - ist über=
1) In den verschiedenen Ausgaben seiner
E i n l e i t u n g z u m N. T., 1817-1845.
2) E i n l. i n
d a s N. T., 1862.
3) In seiner Schrift: D i e
G l a u b w ü r d i g k e i t d e r e v a n g. G
e s ch i ch t e, 1837.
4) W i s s e n s ch a f t l
i ch e K r i t i k d e r e v a n g. G e s ch i
ch t e, 1842.
5) V e r s u ch z u r
H e r st e l l u n g d e s h i st o r. S t a n d p u
n k t s f ü r d i e K r i t i k d e r
n e u t e st. S ch r i f t e n, 1845.
arbeitet und in universalistischem und paulinischem Sinne ergänzt
worden; der Urlukas, der viel strenger paulinisch war als der gegenwärtige,
unterschied sich andrerseits kaum von dem ultrapaulinischen Evangelium
des Marcion, das wir durch Tertullian und Epiphanius kennen. Markus ist,
wie Griesbach erkannt hat, ein farbloser Auszug aus den beiden andern zu
dem ausdrücklichen Zwecke, den dogmatischen Gegensatz zwischen ihnen
auszugleichen. Aus diesem wesentlichen Gegensatz der drei Gesichtspunkte
sind durch wohlüberlegte und absichtliche Änderungen alle Unterschiede
zwischen unsern Synoptikern entstanden, da jeder ohne Bedenken den Text
seines Vorgängers umgestaltet hat, um die Lehre Jesu seinen eigenen
Gedanken anzupassen.
Diese Gesamtauffassung ist die Grundlage aller Arbeiten
der Schule geblieben, wenn auch zahlreiche Verschiedenheiten, ja Gegensätze
hervortraten, sobald es sich darum handelte, sie anzuwenden.
H i l g e n f e l d 1) hält das
Evangelium der Hebräer und seine griechische Umarbeitung in unserm
kanonischen Matthäus für die Quelle der beiden andern, weist
aber Markus die erste Stelle unter diesen an; er erblickt in ihm den Vertreter
eines gemäßigten Judenchristentums, etwa dem des Petrus entsprechend,
der der Zulassung der Heiden geneigt war, während Lukas auf Grund
andrer Quellen die Umbildung des ursprünglichen Evangeliums soweit
treibt, daß er es zum Zeugnis des vollständigen Paulinismus
macht. 2)
Für K. R. K ö s t l
i n 3) bildet Markus den Anfang, die Mitte und das Ende. Der
Markus, von dem Papias redet, die Logia, die ein gemäßigtes
Judenchristentum vertreten und eine dritte Schrift, - eine Beschreibung
der wichtigsten Scenen des Lebens Jesu (Versuchung, Verklärung usw.)
- haben den Stoff des Matthäus geliefert. Andrerseits ist der Urmarkus
zu einem Evangelium des Petrus umgearbeitet worden, in das die Logia des
Matthäus, vermehrt durch judäische Ergänzungen, Aufnahme
fanden. Lukas hat diese verschiedenen Schriften zusammengestellt und mit
südpalästinensischen Quellen verwebt. Unser kanonischer Markus
endlich ist der nach Matthäus und Lukas umgearbeitete Urmarkus. Unsere
Evangelisten sind also nicht Originalschriftsteller, sondern einfache Sammler.
Ganz anders bei V o l k m a r 4),
der dem Haupt der Schule gegenüber die Identificierung unsers Lukas
mit dem Evangelium Marcions siegreich bekämpfte, den Urmarkus und
die Logia des Matthäus aber in das Reich der Fabel verwies. Für
ihn wie für B. Bauer ist unser kanonischer Markus, ein geniales Epos,
die eigne Schöpfung seines Verfassers und die Grundlage der ganzen
synoptischen Litteratur. Markus ist Pauliner. Sein Evangelium ist die Antwort
auf das judenchristliche Manifest, die Apokalypse des Johannes. Diesem
paulinischen Markus stand ein stark judaisierender Matthäus gegenüber,
dem Lukas seinerseits sein Evangelium entgegenstellte, den gemäßigten
Paulinismus des Markus zu behaupten und zu verstärken. Unser Matthäus,
eine Bear=
1) D a s M a r k u s e
v a n g e l i u m, 1850. D i e E v a n g e l i e n
n a ch i h r e r E n t st e h u n g u n d g e s
ch i ch t l i ch e n B e d e u t u n g, 1854. E i n l
e i t u n g i n d a s N. T. 1875.
2) Eine ähnliche Auffassung vertritt
G. d ' E i ch t h a l: L e s E v a n g i l e s,
1851. Nach seiner Meinung hat Markus aus dem Urevangelium, um es den Bedürfnissen
heidnischer Leser anzupassen, die partikularistischen Stellen weggelassen,
die der Verfasser unsers Matthäus beibehielt. Lukas ist beiden gefolgt;
in den beiden geschichtlichen Teilen (1-9, 50 und 18, 15 bis zum Ende)
hält er sich besonders an Markus; wenn er ihn auch bisweilen nach
Matthäus berichtigt und manches streicht, wofür der Kritiker
keine Erklärung giebt; der dogmatische Teil hingegen (so nennt d'Eichthal
den Reisebericht 9, 51-18, 14) ist eine durchdachte Bearbeitung verschiedener
Lehrpunkte, die Lukas im Matthäusevangelium gefunden hatte.
3) U r s p r u n g u n
d C o m p o s i t i o n d e r s y n o p t i s ch e n
E v a n g e l i e n, 1853.
4) D e r U r s p r u n
g u n s r e r E v a n g e l i e n, 1866. D i e
E v a n g e l i e n o d e r M a r k u s u n d d
i e S y n o p s i s, 1870.
beitung des Markus und des Lukas aus der Feder eines freisinnigen palästinensischen
Christen, der diese Gegensätze versöhnen möchte, ist das
Endresultat dieses Kampfes. So wird Matthäus, der bei Baur den Ausgangspunkt
bildete, bei Volkmar der Abschluß der Entwickelung, während
Markus, der bei dem Meister ganz farblos und von den beiden andern abhängig
war, bei dem Schüler ihre gemeinsame Quelle, und zwar eine entschieden
paulinische Quelle wird.
H o l st e n 1) bringt die schrittweise
Entwickelung der Gedanken der Schule zu ihrem Abschluß. Hier wird
die ursprüngliche Auffassung des Petrus und der Zwölf, d.h. das
einfache und naive, dem Paulinismus noch nicht entgegengesetzte Judenchristentum
durch ein Evangelium vertreten, das älter als unser Matthäus
ist, und das man Evangelium des Petrus nennen könnte. In dem Maße,
als Paulus die praktischen Consequenzen dieses naiv universalistischen
Standpunkts zieht, tritt in der Gemeinde zu Jerusalem, wo der Einfluß
des Jacobus vorherrschend wird, der Gegensatz hervor, und nach dem Streit
zwischen Petrus und Paulus in Antiochien wird der Krieg zwischen beiden
Standpunkten erklärt. Das Urevangelium wird, vielleicht unter dem
Einfluß der Logia des Matthäus, in entschieden antipaulinischem
Sinne umgearbeitet; so entsteht unser kanonischer Matthäus. Im Gegensatz
zu ihm wird dann unser Markus verfaßt, der durch seinen scharfen
Paulinismus und die Entfernung aller judaistischen Elemente des Matthäus
tendenziöseste unsrer Synoptiker; er sollte nachweisen, daß
der Standpunkt des Paulus der Jesu selbst gewesen sei. Alle Unterschiede
zwischen Matthäus und Markus sind absichtliche Umgestaltungen des
Matthäustextes zu diesem besonderen Zwecke. Lukas endlich schreibt,
um die durch diesen Streit unter den Evangelien erschütterte Kirche
wieder zu festigen. Zu dem Ende giebt er nach neuen Urkunden dem Inhalt
des Markus die Anordnung, die ihm fehlte, und fügt die judenchristlichen
Elemente des Matthäus, die Markus beseitigt hatte, wieder ein. So
geschieht
es, daß Lukas, bei Baur der eifrige Gegner der Zwölf, bei Holsten
der Vermittler wird, während Markus, bei Baur der farblose Schriftsteller,
hier als der strenge Pauliner erscheint, dessen Standpunkt Lukas mildert.
Nachdem die Schule Baurs so ihren Weg nach allen Richtungen verfolgt hat,
kommt sie zuletzt in jeder Hinsicht bei dem Gegenteil dessen an, von dem
sie ausging, stets jedoch, das muß festgehalten werden, auf der Grundlage
derselben Voraussetzung, des angeblichen Widerstreits zwischen Paulus und
den Zwölf. Diese seltsame Entwickelung beweist zur Genüge, was
die Voraussetzung in Wahrheit für einen Wert hat, und mit welcher
Willkür der Geist unsrer Evangelien in dieser Schule gewürdigt
wird. Ihr Auftreten bedeutet entschieden einen Abweg von dem normalen Verlauf
der Discussion; immerhin ist sie nicht ohne Nutzen gewesen, denn sie hat
energisch zu dem tieferen Studium unsrer evangelischen Urkunden getrieben.
Die Entwickelung, die wir jetzt zu betrachten haben,
beherrschen vor allem die Namen Ritschl, Holtzmann, Weizsäcker, B.
Weiß und Simons.
Seit 1848 widmete H. E w a l d
seine J a h r b ü ch e r d e r b i b l i s ch e
n W i s s e n s ch a f t besonders der Bekämpfung der
Tübinger Schule sowohl hinsichtlich der Synoptiker, als auch des Johannes.
Zwei evangelische Schriften sind nach ihm allen andern voraufgegangen:
die Sammlung der Reden des Matthäus und eine griechische Schrift des
Evangelisten Philippus, die einige Züge aus dem Leben des Herrn wiedergab.
Diese Schrift ist in das Evangelium des Markus übergegangen, in welchem
jene ebenfalls benutzt worden
1) D i e d r e i u r s p r ü n g l i ch e n n o ch u n g e s ch r i e b e n e n E v a n g e l i e n, 1883. D i e s y n o p t. E v a n g e l i e n n a ch d e r F o r m i h r e s I n h a l t s, 1886.
ist. Markus und die Logia, ferner eine andre Schrift, die einiges aus
dem Leben Jesu erzählte (wie die Versuchung), haben unserm kanonischen
Matthäus als Quelle gedient. Aus diesen und drei weiteren Schriften
endlich ist Lukas zusammengesetzt worden. Wir halten uns nicht bei der
noch künstlicheren Construktion S ch o l t e n s 1)
auf, der nicht nur von einem Proto= und Deutero=Markus, sondern sogar von
einem Proto=, Deutero= und Trito=Matthäus redet. Dagegen ist der Aufsatz
R i t s ch l s in den T h e o l o g i s ch e n J a h
r b ü ch e r n von 1851 als einflußreich hervorzuheben.
Dieser Gelehrte vertrat die These von der Priorität des Markus mit
ganz neuen Gründen, die er aus der Vergleichung der synoptischen Berichte
schöpfte, und die bedeutenden Eindruck machten. 2)
Die wichtigste Arbeit aus dieser Periode der Discussion
ist die von H. H o l tz m a n n, D i e s y n o
p t i s ch e n E v a n g e l i e n, 1863, welche die Zweiquellentheorie
am gründlichsten und folgerichtigsten entwickelt: Der Urmarkus (A),
die gemeinsame Quelle der erzählenden Stücke unsrer drei Synoptiker;
die Logia (L), die Quelle des Matthäus
und des Lukas für die Reden Jesu. Die genaue Analyse der drei Synoptiker
setzt den Verfasser in den Stand, jede Erzählung und jeden Ausspruch
der einen oder der andern dieser beiden Quellen zuzuweisen und so ihren
Ursprung und ihren litterarischen und theologischen Charakter genau festzustellen.
Während bei Reuß der Urmarkus viel kürzer als unsre kanonische
Schrift 3) war und später ergänzt worden sein mußte,
enthielt im Gegenteil nach Holtzmann, wie nach Réville, der Urmarkus
mehrere Stücke, die sich in unserm Markus nicht mehr finden, wie die
Bergpredigt, die Geschichte des Hauptmanns von Kapernaum u.a., die auf
eine gemeinsame Quelle zurückgehen müssen.
Bald darauf erschien W e i z s ä ck e
r s Werk: U n t e r s u ch u n g e n ü b e r
d i e e v a n g e l i s ch e G e s ch i ch t e, i h r
e Q u e l l e n u n d d e n G a n g i h r
e r E n t w i ck e l u n g, 1864. Der Grundgedanke ist
derselbe wie bei Holtzmann und Reuß. Aber wie Reuß und Holtzmann
über die erste der beiden Quellen verschiedener Ansicht waren, so
unterscheiden sich Weizsäcker und Holtzmann in der Auffassung der
zweiten. Die Sammlung der Logia soll zur Erklärung des Ursprungs der
Lehrreden Jesu bei Matthäus und Lukas dienen. Aber wie lassen sich
zwei so verschiedene Formen aus einer und derselben Quelle herleiten: einerseits
die großen Redegruppen, die wir bei Matthäus finden, andrerseits
die Menge einzelner Unterweisungen, die wir bei Lukas lesen, besonders
in dem Mittelstück, dem Reisebericht 9, 51-18, 14, in dem sich ein
großer Teil des Inhalts der Reden des Matthäus findet? Reuß
zog sich durch die Annahme von zwei verschiedenen Ausgaben der Logia aus
der Schwierigkeit, deren eine Matthäus, die andre Lukas benutzt hätte.
Allein wie hätte dasselbe Werk zwei so abweichende Formen annehmen
können? Nach Holtzmann ist vielmehr anzunehmen, daß Lukas die
ursprüngliche Form der Logia bewahrt hat, während die im ersten
Evangelium dargebotene das
1) D a s ä l t e st
e E v a n g e l i u m, 1869. D a s p a u l i n
i s ch e E v a n g e l i u m, 1881.
2) So erklärt sich z. B. Lukas
4, 23 nur aus einer andern Anordnung der Erzählungen, als der des
Lukas selbst, die nur Markus entnommen werden kann. 4, 39 setzt die vorgängige
Berufung der Jünger voraus, wie bei Markus. Daß Lukas alles,
was zwischen den beiden wunderbaren Speisungen liegt, wegläßt,
hat darin seinen Grund, daß Lukas, dem der Bericht des Markus vorschwebt,
die beiden ähnlichen Vorgänge vermischt. - Das gewonnene Resultat
hat Ritschl in seiner Vorlesung von 1865 folgendermaßen entwickelt:
Matthäus hat als Quellen gehabt 1) unsern Markus, 2) eine Redaktion
(A) der Reden des Matthäus, 3) andre uns unbekannte Quellen. Lukas
hat ebenfalls Markus benutzt, ferner eine Redaktion (B) der Logia, endlich
unsern Matthäus. Aber die Benutzung früherer Schriften hat nur
nach dem Gedächtnis stattgefunden.
3) Er enthielt nur Markus 1, 21-6,
48 und 8, 27-13, 37.
Werk des Verfassers desselben ist. Weizsäcker glaubt im Gegenteil
die ursprüngliche Fassung der Logia bei Matthäus zu finden und
denkt, Lukas habe die großen Redestücke aufgelöst und den
Unterweisungen Jesu die Form von Privatunterhaltungen gegeben mit Rücksicht
auf die kirchlichen und sozialen Umstände der späteren Zeit,
in der er schrieb; er hat sie zu dem Ende meist nach eigner Erfindung mit
begründenden Einleitungen versehen. Im Unterschiede von Holtzmann
schreibt Weizsäcker ebenfalls den Logia gewisse Züge zu, die
Lukas und Matthäus gemeinsam sind, aber bei Markus fehlen, und von
denen Holtzmann annimmt, sie seien im Urmarkus gewesen; so sieht er in
den Logia nicht nur eine didaktische, sondern in gewissem Grade auch eine
erzählende Quelle, die dadurch in demselben Maße an Wichtigkeit
gewinnt, als der Urmarkus daran einbüßt. 1) Damit
ist schon ein Teil des Weges zurückgelegt, der zu der Erklärung
von
B. Weiß führt.
M e y e r, zuerst Anhänger der Ansicht
Griesbachs, ist seit 1853 zu der Ewalds übergegangen. Lukas ist von
Matthäus abhängig, von dem auch Markus, obwohl er von den dreien
der älteste ist, in gewisser Hinsicht beeinflußt sein kann,
weil das erste Evangelium allmählich in Palästina entstanden
ist und deshalb viele sehr alte und ursprüngliche Stücke bewahrt
hat, die Markus später sammelte. Reuß glaubte trotz der Annahme
der Priorität des Markus ebenfalls festgestellt zu haben, daß
der Anfang und der Schluß dieses Evangeliums Auszüge aus Lukas
und Matthäus seien.
Erwägungen dieser Art haben B.
W e i ß zu dem System geführt, das er zuerst in mehreren
Artikeln der J a h r b ü ch e r f ü r d e u
t s ch e T h e o l o g i e (1864) entwickelte, dann in zwei
großen Schriften: D a s M a r k u s e v a n g e l i u
m u n d s e i n e s y n o p t i s ch e n P a r
a l l e l e n (1872) und D a s M a t t h ä u s e
v a n g e l i u m u n d s e i n e L u k a s = P a r a
l l e l e n (1876), endlich in seiner E i n l e i t u n g
i n d a s N. T. 2) Während Holtzmann
den Urmarkus als gemeinsame (erzählende) Quelle der drei Synoptiker
und die Logia als (lehrhafte) Quelle des Matthäus und Lukas annahm,
nimmt Weiß als gemeinsame (erzählende und didaktische) Quelle
aller drei die Logia und als (erzählende) Quelle des Lukas und Matthäus
unsern Markus selbst an. Die Hauptquelle der synoptischen Berichte ist
keineswegs ein Urmarkus, der nie existiert hat, auch nicht unser Markus,
sondern der apostolische Matthäus oder das Werk, das Papias Logia
nennt. Dieses Werk enthielt in Wirklichkeit nicht nur Reden; eine Schrift,
die nur Reden umfaßte ohne erzählende Elemente, wäre undenkbar,
die Aussprüche Jesu mußten an die Umstände geknüpft
werden, die sie veranlaßten. Der Urmatthäus umfaßte also
viele Züge aus dem Leben Jesu und wurde "Logia" a p o
t i o r i p a r t e genannt. Aus dieser Schrift sind nicht
nur die Matthäus und Lukas gemeinsamen Reden Jesu hervorgegangen,
sondern alle die Züge, die sich in beiden finden und bei Markus fehlen
3),
endlich viele andre Thatsachen und Reden, die jetzt im Markus vorhanden
sind, aber dort augenscheinlich den Charakter einer Entlehnung tragen.
Dadurch, daß Weiß alle diese Stoffe aus den Logia herleitet,
macht er nicht nur jede
1) In seinem A p o st o l i s
ch e n Z e i t a l t e r (1886) läßt Weizsäcker
selbst den Gedanken an die Benutzung derselben Quelle für die Reden
Jesu durch Matthäus und Lukas fallen und nimmt zwei verschiedene zur
Befriedigung der Bedürfnisse der Gemeinden verfaßte Sammlungen
an, von denen Matthäus die eine, Lukas die andre benutzte. Die Redaktion,
deren Matthäus sich bediente, ist älter, denn sie befaßt
sich ausschließlich mit Gegenständen, die das Leben der Urkirche
direkt interessierten.
2) L e h r b u ch d e
r E i n l e i t u n g i n d a s N. T.,
1886.
3) Da diese Lukas und Matthäus
gemeinsamen Stücke sich nicht bei Markus, der Quelle beider, finden,
mußten sie, wenn man nicht einen früheren Markus, in dem sie
waren, annehmen will, einer andern Quelle, den Logia, und dieser ein historischer
Inhalt, zugeschrieben werden.
Urmarkushypothese überflüssig, sondern weist auch Markus trotz
der Originalität, die ihm die darin enthaltenen Erzählungen des
Petrus sichert, eine weit niedrigere Stellung an, als die ihm die Kritiker
gaben, die in ihm die historische Hauptquelle der beiden andern erblickten.
Nach Weiß ist in diesem Evangelium immer eine gewisse Mischung von
ursprünglichen und abgeleiteten Zügen aufgefallen. Jene stammen
wohl aus den Erzählungen des Petrus, diese erklären sich aus
dem Umstande, daß Markus, obwohl auch er die "apostolische Quelle"
(Logia) benutzte, sie weniger genau und weniger vollständig wiedergegeben
hat als Matthäus und Lukas, deren Übereinstimmung sich eben aus
diesem Grunde erklärt, ebenso wie die Schwächen der Markusschrift.
Daraus ergiebt sich der zwiefache Eindruck, den Markus macht, und die verschiedenen
Stellungen, die ihm nach einander gegeben worden sind; er ist thatsächlich
zugleich ursprünglich und abhängig, abhängig dem apostolischen
Matthäus gegenüber, aber Quelle für den kanonischen Matthäus;
dies ist der Grund, warum er dem ersten Evangelium gegenüber bald
als das Original erscheint, bald als die Nachbildung.
Der apostolische Matthäus ist also die große
Quelle, der Matthäus und Lukas hauptsächlich ihren Stoff entnommen
haben, und die Markus ebenfalls aushülfsweise benutzt hat. Aber Lukas
hat uns die Reden Jesu in ihrer ursprünglichen Getrenntheit bewahrt,
während Matthäus die bekannten großen Zusammenfassungen
gebildet hat. Andrerseits hat Markus nach den Berichten des Petrus den
Fortschritt in der Reihenfolge und Anordnung geliefert, die wir bei Lukas
und dem kanonischen Matthäus finden. Die "apostolische Quelle" begann
mit der Tätigkeit Johannes des Täufers (Matth. 3, 1) und schloß
mit dem Anfang der Leidensgeschichte, wo der Bericht des Lukas zu sehr
von dem der beiden andern abweicht, als daß er dieselbe Quelle wie
sie benutzt haben könnte. Lukas muß außer den Logia und
Markus noch eine dritte Quelle gehabt haben, die das ganze Leben des Herrn
umfaßte und die zahlreichen Züge, Reden und Gleichnisse enthielt,
die dem dritten Evangelisten eigen sind. Aus dieser Quelle leitet Weiß
auch die Leidensgeschichte bei Lukas ab.
In seinen beiden Schriften über Markus und
Matthäus hat Weiß seine Theorie an dem Text der Synoptiker bis
ins einzelnste angewendet; dies ist vielleicht die bedeutendste Arbeit,
die es über diesen Gegenstand giebt.
K l o st e r m a n n hat in seiner 1876 erschienenen
Schrift 1) den Satz aufgestellt, daß Markus unsern Matthäus
oder eine von diesem wenig verschiedene Fassung der mündlichen Urtradition
vor Augen gehabt haben müsse; diese hat er unter Hinzufügung
von Notizen nach den Berichten des Petrus überarbeitet. Lukas hat
sein Evangelium zunächst auf der Grundlage der beiden andern, dann
auch nach weiteren mündlichen und schriftlichen Quellen verfaßt.
R e n a n nimmt in der Einleitung zu seinem
L e b e n J e s u (1863) und in den E v a n g e l i e
n (1877) als erste evangelische Schrift ein syro=chaldäisches
Werk aus dem Schoße der judenchristlichen Gemeinden an, die sich
vor der Zerstörung Jerusalems in das Ostjordanland geflüchtet
hatten, und an deren Spitze die Brüder Jesu standen. Dies Evangelium
erhielt sich in mannigfacher Umgestaltung bis ins 5. Jahrhundert bei den
Nazaräern. Es enthielt vor allem die Reden des Herrn. Matthäus
steht ihm unter unsern Evangelien am nächsten. Aus diesem batanäischen
Evangelium stammen die Reden des Herrn im ersten Evangelium, die Lukas
auch wiedergegeben hat. Markus schrieb zuerst ein Evangelium in griechischer
Sprache. Als Begleiter des Petrus verfaßte er in Rom nach dessen
Märtyrertode seine kleine Schrift, "den ersten
1) Das Markusevang. nach seinem Quellenwert für die evang. Geschichte.
Kern der griechischen Evangelien". Nichts hindert an der Annahme, daß
der Augenzeuge, dessen Berichte Markus wiedergab, der Apostel selbst gewesen
sei, auch liegt kein Grund vor, zu glauben, daß seine Erzählung
sich von der des kanonischen Markus merkbar unterschieden habe. Für
die Mitteilung der Thatsachen hat Markus den beiden andern als Quelle gedient.
Der Verfasser des Matthäus benutzte auch das hebräische Evangelium
(Logia). Lukas hat Markus und ein hebräisches Evangelium gebraucht,
nicht aber eine Redensammlung, in der die großen Stücke zusammengestellt
gewesen wären, wie wir sie in unserm Matthäus finden. Er hat
unsern Matthäus nicht gekannt, denn sonst wäre es unverständlich,
daß er fortwährend die großen Reden, die dieser giebt,
zerrissen hätte. Renan weist auch darauf hin, daß Lukas die
Einzelheiten nicht hat, die Matthäus dem Markustexte zufügt,
und daß Lukas in den Stellen, die bei Markus fehlen, eine von der
des Matthäus abweichende Fassung bietet. Übrigens schöpfte
Lukas noch voll und ganz aus der Tradition.
K e i m trat in seiner G e s ch i ch
t e J e s u v o n N a z a r a (T. I, 1867) mit
Entschiedenheit der Priorität des Markus, wie auch der Benutzung des
Matthäus durch Lukas entgegen. Er denkt, daß kurz vor der Zerstörung
Jerusalems aus schon vorhandenen Materialien (Genealogien, Apokalypsen,
Bearbeitungen der Reden und Thaten Jesu) der wohlgefügte Bau des ersten
Evangeliums entstand. Papias hat keineswegs einem Matthäus, der nur
Reden enthielt, einen andern Matthäus gegenübergestellt, der
Reden und Geschichte umfaßte, sondern er unterscheidet einfach einen
hebräischen Matthäus von einem griechischen. Die Hauptquelle
des Lukas ist ein großes Evangelium judenchristlichen und ebionitischen
Charakters gewesen. Sein Text der Reden Jesu ist zu verschieden, als daß
er ihn Matthäus entnommen haben könnte. Außerdem hat er
aus paulinischen und samaritanischen Quellen geschöpft. Markus ist
von Matthäus und Lukas abhängig, wie Griesbach und Baur erkannt
haben, hat aber auch die mündliche Überlieferung benutzt. 1)
G r a u 2) meint, daß der Schatz
der Erinnerungen der Gemeinde zu Jerusalem, zu dessen mündlicher Feststellung
Petrus hauptsächlich mitgewirkt hat, die erste Quelle der evangelischen
Litteratur gewesen ist. Um die Aussprüche Jesu unverändert zu
bewahren, verfaßte Matthäus die Redensammlung, die er später
griechisch bearbeitete und mit der von Petrus formulierten Tradition verband;
so entstand unser kanonischer Matthäus, dessen sich Markus bediente,
um sein Evangelium für die Heiden zu schreiben, indem er auch die
Predigten des Petrus zu Hülfe nahm. Lukas benutzt die Reden des Matthäus
und unsern Markus, mit denen er seine paulinischen Überlieferungen
verwebt.
N ö s g e n 3) hat von
1876 bis 1880 in den S t u d i e n u n d K r i t i k
e n mehrere Artikel über das Lukasevangelium veröffentlicht,
von dem er glaubt, daß es verfaßt wurde, um Theophilus gegen
die judaisierenden Lehren, die in Syrien, wo dieser vornehme Mann lebte,
besonders verbreitet und wirksam waren, Halt zu gewähren. Lukas hat
den Inhalt desselben aus der apostolischen Tradition, unter andern bei
Jakobus, dem Bruder des Herrn, und bei Johannes, bisweilen auch aus den
aramäischen Logia des Matthäus entnommen. Markus ist hinsichtlich
der Folge der Thatsachen in dem ersten Teile seiner Schrift Lukas, in dem
letzten Matthäus gefolgt, indem er außerdem die Berichte des
Petrus verwertete. Der kanonische Matthäus ist keine Über=
1) In seiner letzten Schrift
A u s d e m U r ch r i st e n t u m, 1878, geht
Keim weiter und erklärt, daß er nach erneuertem Studium des
Papiaszeugnisses und der Matthäusreden sich nicht mehr so entschieden
der Theorie von den zwei Quellen, der einen für die Reden, der andern
für die Thatsachen, widersetzt.
2) E n t w i ck e l u n g s
g e s ch i ch t e d e s n e u t e st. S ch r i f t t
u m s, 1871.
3) Siehe auch den k u r z g
e f a ß t e n K o m m e n t a r z u m N.
T., I., 1886.
setzung - die Sprache beweist eine ursprünglich griechische Abfassung
- sondern eine Bearbeitung der Logia durch Matthäus selbst unter Hinzunahme
der mündlichen Überlieferung.
Man sieht, daß der Gedanke der mündlichen
Überlieferung keineswegs vergessen ist, wenn er auch bei diesen verschiedenen
Construktionen an untergeordneter Stelle steht. Zu diesem Mittel der Erklärung
ist H a s e am Ende seiner Laufbahn 1) nach verschiedenen
Theorieen, [sic] denen er nacheinander den Vorzug gab, zurückgekommen.
Nach der Beleuchtung der andern Lösungen fügt er hinzu: "Hierdurch
werden wir zu einer dritten Ansicht fortgetrieben: ein Urevangelium, aber
nicht schriftlich, nicht durch Verabredung, sondern es hat sich von selbst
so gemacht. Dies entspricht dem Sinn jener begeisterten Zeit, die noch
wenig gab auf den Buchstaben, aber das Andenken des Herrn alltäglich
feierte. Denken wir uns eine Familie, welche ganz in der Erinnerung lebt
an einen abgeschiedenen ruhmvollen Ahnherrn. Einige Genossen seiner Jugend,
seiner Thaten sind noch am Leben und erzählen dem heranwachsenden
Geschlechte die weisen Sprüche und hohen Thaten ihres großen
Vorfahren, und das oft Gehörte hören alle gerne von Neuem. Die
Geschichten werden sich allmählich abrunden und eine feste Gestalt
annehmen bis auf Wortfügungen. Solch eine Familie war die apostolische
Christenheit in Palästina." Hase macht darauf aufmerksam, daß
der mündliche Bericht selten die wirkliche Reihenfolge der Thatsachen
innehält, und daß sich daraus die so häufigen Umstellungen
der Vorgänge in der synoptischen Geschichte erklären. Er sieht
Markus als die Schrift an, in der der anfängliche evangelische Typus
sich am genauesten erhalten hat, auch wenn er später als die Urform
des Matthäus entstanden sein sollte.
In einer Schrift voll feiner und treffender
Bemerkungen, die vielleicht nicht genug beachtet worden ist 2),
widerlegt W e tz e l mit Scharfsinn die üblichen Lösungen
und stimmt der Erklärung durch die mündliche Überlieferung
zu, der er jedoch eine eigentümliche Form giebt. Er nimmt an, der
Apostel Matthäus habe zu Jerusalem den hellenistischen Evangelisten,
die zum Besuch bestehender Gemeinden und zur Gründung neuer ausgingen,
eine Unterweisung über das Leben Jesu in griechischer Sprache gegeben.
Die Hörer schrieben diesen Lehrgang selbst auf; das waren die Schriften
der polloi/, der zahlreichen Verfasser, von
denen Lukas redet (1, 1). Markus führte diese Arbeit aufs genaueste
aus, indem er die einzelnen Vorgänge sorgfältig notierte und
besonders das Thatsächliche berücksichtigte, das ihm wichtiger
erschien als die Reden. Die Notizen des Verfassers unsers ersten Evangeliums
waren ausführlicher als die des Markus, aber er begann seine Aufzeichnungen
erst mit Kap. 14, 13, dem Punkte, von dem an beide Evangelien parallel
laufen. Bis dahin hatte er sich auf sein Gedächtnis verlassen. Lukas
hat gar nichts geschrieben, er eignete sich die Vorträge nur gedächtnismäßig
an, einige hat er sogar versäumt, woraus sich die große Lücke
zwischen 9, 17 und 18 erklärt. Außer dieser Vorlesung aber hat
das erste und dritte Evangelium noch andere Nebenquellen benutzt.
Die Hypothese der mündlichen Überlieferung
braucht glücklicherweise keine so materielle Form anzunehmen, um die
Lösung des Problems zu geben. An diese Erklärungsweise schließen
sich W e st c o t t 3) und L e C a m u s 4)
an.
1) In seiner G e s ch i ch t
e J e s u, 1876.
2) D i e s y n o p t i
s ch e n E v a n g e l i e n, 1883.
3) I n t r o d u c t i o n
t o t h e s t u d y o f t h e G o s p e l
s, 1860. 7. Aufl. 1882.
4) V i e d e N.
S. J é s u s - C h r i s t, 6. Aufl. 1901.
Eine Schrift, die in der gegenwärtigen Kritik
eine ziemlich bedeutende Rolle gespielt hat, ist die von S i m o
n s: H a t d e r d r i t t e E v a n g e l i st
d e n k a n o n i s ch e n M a t t h ä u s b e n
u tz t? (1880.) Zwei Punkte erscheinen dem Verfasser als feststehende
Resultate, die Priorität des Markus vor den beiden andern Synoptikern
und die Abhängigkeit dieser von ihm; ferner das Vorhandensein einer
zweiten Quelle, der Sammlung der Reden, der er aber nicht nur Reden, sondern
gelegentlich auch Thatsachen zuschreibt. Auf dieser Grundlage unternimmt
er den Nachweis, daß, wenn auch Matthäus möglicherweise
nur diese beiden Quellen gehabt hat, Lukas außerdem Matthäus
selbst gekannt und benutzt haben muß. Dadurch wird der Urmarkus Holtzmanns,
der die Matthäus und Lukas gemeinsamen Stücke, die bei Markus
fehlen, erklären sollte, überflüssig. Lukas hat sie direkt
aus Matthäus oder aus den Logia entnommen, mit deren Hülfe er
sogar Matthäus berichtigen konnte, wo dieser die Logia unvollständig
oder ungenau wiedergegeben hatte. Simons kann endlich auf die Abhängigkeit
des Markus von den Logia verzichten, die Weiß behauptete, und die
seine Hypothese complicierte, weil, wenn Lukas direkt von Matthäus
abhängt, sich die Züge, die er mit diesem gemeinsam hat, abgesehen
von Markus leicht durch den Einfluß erklären, den Matthäus
auf ihn geübt hat. Man dürfte sich freilich nicht vorstellen,
als sei Lukas bei seiner Arbeit von einer Urkunde zur andern, von Markus
zu Matthäus übergesprungen, das ließe sich mit der Einheitlichkeit
seiner Schrift nicht vereinigen. Simons läßt eine Quellenbenutzung
durch Lukas nicht d e v i s u, sondern nach dem Gedächtnis
zu, so wie die Schriftsteller des N. T. die LXX citierten. Dabei bleibt
zu erwägen, ob die einfache Erinnerung an früher gelesene oder
durchgesehene Urkunden ausreicht, um den gleichen Wortlaut so vieler synoptischer
Stellen zu erklären.
Simons erzielte mit seiner Schrift eine bedeutende
Wirkung. H o l tz m a n n, der in seinem Glauben an den Urmarkus
durch die Schwierigkeit, sich von einer solchen Schrift eine deutliche
Vorstellung zu machen, bereits erschüttert war, verzichtete ganz darauf
1),
um an seine Stelle die Benutzung des Matthäus durch Lukas zu setzen,
wie Simons sie nachwies, Auch M a n g o l d 2) hat die
Überzeugung ausgesprochen, daß Lukas von Matthäus abhängig
sei, jedoch ohne den Urmarkus aufzugeben. Ebenso W e n d t
und P a u l E w a l d, von denen wir weiter unten zu
reden haben.
In einem Aufsatze mit dem Titel: D i e
a p o st o l i s ch e S p r u ch s a m m l u n g 3), kommt
B e y s ch l a g auf den Urmarkus als die Hauptgeschichtsquelle zurück
und nimmt für diese Schrift den Platz in Anspruch, den Weiß
den Logia hatte einräumen wollen. In Übereinstimmung mit
W e i f f e n b a ch 4) nimmt er sogar zwei Urmarkus an; der,
welcher unsern Synoptikern als gemeinsame Quelle gedient hat, war selbst
schon die Umarbeitung älterer Notizen des Markus nach den Erzählungen
des Petrus. Diese Notizen, einfache Darstellungen einzelner Vorgänge,
erhielten in Palästina die historische Anordnung, die ihnen fehlte,
und dienten in dieser vollständigeren Form unsern beiden großen
Synoptikern und unserm Markus selbst als Quelle. Dieser wurde in Rom für
die Heidenchristen dieser Stadt verfaßt.
In dem 9. Teil seines großen Werks über
das Neue Testament, das nach seinem Tode erschien 5), nimmt
H o f m a n n an, daß Lukas zu Rom nach seinen eignen Erkundigungen
aber auch nach verschiedenen Schriften (1, 1),
1) T h e o l o g. L i t
t e r a t u r z e i t u n g, 1881, Nr. 8.
2) E i n l. i n
d a s N. T., von Bleek=Mangold, 4. Aufl., 1886, S. 240.
3) In den S t u d i e n
u n d K r i t i k e n, 1881.
4) D a s P a p i a s =
F r a g m e n t, 1874.
5) D i e h e i l.
S ch r i f t N. T., 9. Abt.: Z u s a m m e n f
a s s e n d e U n t e r s u ch u n g, herausgeg. von Volck,
1881.
unter andern der des Markus, sein Buch verfaßt habe, Matthäus
sei ihm gleichfalls bekannt gewesen. Markus hat in Palästina von Matthäus
Kenntnis gehabt, eher er sich nach Rom begab.
J a c o b s e n stellt in einer kleinen Schrift,
die 1883 erschien 1), als erste Quelle den Kern der Markusschrift
hin, der von Petrus stammt, den er aber unserm Markus entgegenstellt, der
mit neuen Zusätzen überladen sei. Matthäus habe sich dieses
Urmarkus bedient und viele Aussprüche des Herrn nach der Redensammlung
hinzugefügt. Lukas benutzte nicht die Logia, sondern unsern Matthäus
und Markus, denen er abwechselnd folgt. Es ist nach Jacobsen ein Beweis
des Wirkens Gottes in der Geschichte, daß sich dank diesen beiden
Urschriften die echten Spuren der Wirksamkeit Jesu niemals verwischt haben
und daß wir uns noch heute in den Geist dieser großartigen
Epoche versenken können.
Nach S t o ck m e y e r 2) ist
Matthäus nichts als ein mittelst der Logia erweiterter Markus, von
denen der Verfasser von Zeit zu Zeit ein Stück in den Rahmen des Markus
einschiebt. Lukas hat ebenfalls Markus benutzt, von dem er ein unvollständiges
Exemplar besaß (die große Lücke bei Lukas), außerdem
die Logia, die er ziemlich unverändert wiedergab, und weiter ein Evangelium
ebionitischer Färbung, das aus der Urgemeinde herrührte.
S a l m o n bekämpft in seinem Buche
A h i s t o r i c a l I n t r o d u c t i o n t o
t h e b o o k s o f t h e N. T. 3)
die Erklärung durch die mündliche Überlieferung und stellt
ein besonderes System auf, wonach ein Urmarkus zur Abfassung des Lukas
und des Matthäus gedient hätte, während diese wiederum von
dem Verfasser unsers kanonischen Markus benutzt worden wären.
W e n d t 4) nimmt ebenfalls die beiden
Quellen an. Die Verfasser unsers ersten und dritten Evangeliums haben dieselbe
Absicht gehabt, sie durch neue Nachforschungen zu vervollständigen
und zu einem einheitlichen Bilde der Wirksamkeit Jesu zu vereinigen. Markus
hat nicht einen Urmarkus als Grundlage gehabt (gegen Holtzmann) und kann
nicht die Logia gekannt haben (gegen Weiß), wie hätte er sonst
deren größten Teil weglassen können, sogar das, was so
gut zu seinem Zwecke paßte? Er hat die Hauptmasse seines Stoffs den
mündlich überlieferten apostolischen Berichten entnommen, die
aber in der Überlieferung bereits eine feste Form angenommen hatten.
Die Quellen des Markus liegen also ganz außerhalb der in unserm Besitz
befindlichen Urkunden. Die Sammlung der Reden Jesu stammt von einem Ohrenzeugen
her, sie ist in zwei verschiedenen Bearbeitungen auf uns gekommen, von
denen Matthäus die eine, Lukas die andere benutzte. Wir können
diese Urschrift annähernd reconstruieren, indem wir diese beiden Evangelien
verbinden. 5) Wendt leitet das Meiste, das Lukas eigentümlich
und das ihm mit Matthäus gemeinsam ist, aus den Logia her, während
Weiß eine dritte Quelle für ihn annahm.
P a u l E w a l d 6)
hat einen eigentümlichen Gedanken ausgesprochen; daß nämlich
das synoptische Problem nur gelöst werden kann, wenn man das vierte
Evangelium in Betracht zieht. Wo sollte sich wohl die wirkliche apostolische
Tradition über das Leben Jesu finden, wenn nicht in dem Bericht, der
direkt von dem Apostel Johannes herrührt? Die synoptische Erzählung,
die so bedeutend von jener abweicht, kann doch nicht den Anspruch erheben,
die wahre Tradition der Gemeinde zu Jerusalem zu sein. Wie ist aber in
diesem Falle
1) U n t e r s u ch u n g e n
ü b e r d i e s y n o p t i s ch e n E v a n g e
l i e n.
2) T h e o l. Z e i t
s ch r i f t a u s d e r S ch w e i z, 1884.
3) 1885, 4. Aufl. 1889.
4) D i e L e h r e
J e s u, I, 1886.
5) Wie Wendt dies thatsächlich
versucht hat.
6) D a s H a u p t p r
o b l e m d e r E v a n g e l i e n f r a g e, 1890.
der Ursprung des synoptischen Typus zu erklären, der dem johanneischen
in so vielen Punkten widerspricht? Er muß außerhalb der großen
Strömung der palästinensischen Tradition, die von Johannes vertreten
wird, entstanden sein. Wenn für die, welche mit P. Ewald selbst die
Echtheit des 4. Evangeliums annehmen, die synoptische Tradition wirklich
nicht central sein kann, so muß sie rein lokalen, ja gewissermaßen
persönlichen Ursprungs sein. Als Lösung dieser rätselhaften
Erscheinung wird Folgendes vorgeschlagen: Petrus war gewohnt, vor allem
die Vorgänge der galiläischen Wirksamkeit zu schildern, folglich
füllten natürlich diese Erinnerungen den Bericht des Markus,
der die Predigt des Petrus wiedergab. Dieser persönliche Einfluß
des Petrus machte sich besonders in Italien fühlbar, und in diesem
Lande haben wir den Ursprung unsrer Synoptiker und den Leserkreis zu suchen,
für den sie zunächst bestimmt waren. Der Verfasser des Matthäus
benutzte neben Markus die Redensammlung des gleichnamigen Apostels, die
er zu dem didaktischen Zweck, den Begriff des Gottesreichs nach allen Seiten
darzustellen, fals ganz aufnahm. Außer diesen beiden von Matthäus
benutzten Urkunden gebrauchte Lukas eine dritte, die ihm den Stoff für
das große Zwischenstück darbot, als dessen Quelle man gewöhnlich
eine Bearbeitung der Logia annimmt, die von der dem Matthäus zu Gebote
stehenden verschieden war. - Diese sonderbare Hypothese kann jedenfalls
dazu dienen, daß man das synoptische Problem in seinem Verhältnis
zur mündlichen Tradition einerseits und zur johanneischen Erzählung
andrerseits genauer verfolgen wird.
Hier ist der Ort, eine interessante Arbeit zu erwähnen,
die F e i n e 1891 veröffentlichte. Dieser Kritiker hatte
die synoptische Frage bereits früher unter dem Gesichtspunkt der zwei
Quellen behandelt. 1) Er hatte zugegeben, daß die erzählende
Quelle der drei Synoptiker in ihrer Urform von Matthäus genauer als
von Markus wiedergegeben sei, und daß die didaktische Quelle in ebionitischem
Sinne bedeutend verändert in die Hände des Lukas gekommen sei.
In seiner neueren Schrift 2) geht er auf diesem Wege weiter,
indem er zeigt, daß Lukas eine judenchristliche, dem gesetzlichen
und verfolgungssüchtigen Judaismus sehr feindliche Quelle benutzt
habe, deren Text dem des Briefs des Jakobus und selbst dem des Johannes
ziemlich ähnlich war. Dies würde beweisen, daß von den
Anfängen der Gemeinde an zu Jerusalem ein Christentum universalistischer
und antipharisäischer Tendenz vorhanden war, und Lukas von dem Vorwurf
reinigen, sowohl im Evangelium als auch in der Apostelgeschichte von sich
aus Änderungen der Geschichte vorgenommen zu haben. Neben diesem Urevangelium,
das auch Matthäus und Markus benutzten, habe Lukas die Logia und Markus
gebraucht, dagegen sei ihm Matthäus unbekannt gewesen, ebenso wie
Markus diesem.
Fast zu gleicher Zeit sehen wir Versuche in einer
ganz verschiedenen Richtung erscheinen. In zwei Schriften, A g r
a p h a (1889) und A u ß e r k a n o n i s ch e
P a r a l l e l t e x t e z u d e n E v a n g e l i e
n (1893-1897) 3), hat A. Resch eine große Zahl nicht
kanonischer Aussprüche gesammelt, die von den Vätern und den
apokryphischen Evangelien Christo beigelegt werden. Resch zählt deren
74 auf, die er für echt hält. 4) Diese Aussprüche
würden nach ihm das Vorhandensein eines Urevangeliums beweisen, aus
dem nicht nur unsre Synoptiker, sondern auch Paulus und andre Schriftsteller
des
1) J a h r b. f ü
r p r o t e st. T h e o l., 1885-1888.
2) E i n e v o r k a n
o n i s ch e Ü b e r l i e f e r u n g d e s L u
k a s, 1891.
3) Herausgegeben in den T e
x t e n u n d U n t e r s u ch u n g e n von Gebhardt
und Harnack. - Siehe auch den Aufsatz von Resch: "Ta\
lo&gia 0Ihsou=", in den T h e o l o g i s ch e n
S t u d i e n, B. Weiß dargebracht, 1897.
4) Er hat weitere 103 aufgeführt,
die er selbst für apokryph hält.
Neuen Testaments, endlich auch die Väter geschöpft hätten.
Diese Schrift enthielt neben den Aussprüchen einen umfassenden historischen
Stoff, in erster Linie die Matthäus und Lukas gemeinsamen Stücke.
Sie ging von der Thätigkeit Johannes des Täufers aus und schloß
mit dem Bericht der Himmelfahrt und dem Apostelverzeichnis (Ap. Gesch.
1). Resch hat den Versuch gemacht 1), ihren Wortlaut in der
Ursprache - nach ihm hebräisch - herzustellen, um so zu zeigen, wie
die Verschiedenartigkeit unserer evangelischen Texte sich aus verschiedenen
Übersetzungen desselben Originals ergeben. Dies von Resch angenommene
Werk sei betitelt gewesen D i b r e J e s ch u a ("Geschichten"
Jesu), etwas ungenau ins Griechische übersetzt "Logia". Das ist die
Schrift des Matthäus, von der Papias geredet hat. Die Kindheitsgeschichten
waren nicht darin. Als Quelle für die ersten Kapitel des Lukas und
des Matthäus nimmt Resch ein hebräisches "Kindheitsevangelium"
an, dessen Text er ebenfalls reconstruiert hat. 2)
J. H. R o p e s 3) übte
strenge Kritik an den A g r a p h a und an dem System, das
Resch darauf baut. Er hat gezeigt, daß etwa ein Dutzend der "Agrapha"
als historisch angesehen werden können, und daß ein Urevangelium,
das lange nach der Zeit der Apostel bestanden (denn die Väter sollen
es benutzt haben) und sich einer großen Verbreitung erfreut, und
von dem doch niemals jemand etwas gehört hätte, eine ganz unhaltbare
Hypothese sei. Andrerseits hat ein Orientalist anerkannten Ansehens,
G. D a l m a n 4) in überzeugender Weise nachgewiesen,
daß von einem h e b r ä i s ch e n Urevangelium
nicht die Rede sein kann, und daß die Reden des Herrn vielmehr nur
in der von Jesu und den Aposteln geredeten und von den Juden verstandenen
Sprache, dem Aramäischen, mündlich und schriftlich 5)
überliefert sein können.
Fast gleichzeitig mit Resch und unabhängig
von ihm war der englische Professor M a r s h a l l auf den
Gedanken gekommen 6), daß die Verschiedenheit unsrer Texte
sich aus der verschiedenen Wiedergabe eines Originals erklären müsse,
das vor unsern Synoptikern vorhanden war, dies Original aber wäre
aramäisch gewesen. 7) Nach seiner Meinung begünstigte
sogar die Form der aramäischen Schrift Irrtümer und Verschiedenheiten
der Übersetzung. Trotz der von Marshall bei seinen Beispielen entwickelten
Geschicklichkeit hält Dalman seine Arbeit für wenig gründlich
und erklärt, daß er von dem Vorhandensein eines aramäischen
Originals des evangelischen Textes nicht überzeugt sei. Die zahlreichen
Hebraismen und Aramaismen darin kommen nach seiner Meinung auf Rechnung
des stark hebraisierenden und aramaisierenden Griechisch jener Zeit, von
dem die LXX uns ein Beispiel bieten. Die unmittelbaren Quellen unsrer Evangelien
waren griechisch abgefaßt.
Diesen Gesichtspunkt teilen die weitaus meisten
Kritiker der Gegenwart; sie halten im allgemeinen an der Theorie fest,
die in Matthäus und Lukas die Vereinigung von zwei Hauptquellen erblickt,
des Markus für die erzählenden Teile, der Matthäuslogia
für die ihnen gemeinsamen Lehrstücke. Diese Zweiquellentheorie
bildet mit vielen Abweichungen im einzelnen die Grundlage
1) In seinem Werk D i e
L o g i a J e s u, 1898.
2) D a s K i n d h e i
t s e v a n g e l i u m n a ch L u k a s u n d
M a t t h ä u s (P a r a l l e l t e x t e, V) 1897.
3) D i e S p r ü
ch e J e s u (T e x t e u n d U n t e r s u ch
u n g e n, XIV, 2), 1896.
4) D i e W o r t e J e
s u, I, 1898.
5) Unter der Voraussetzung, daß
den griechischen eine semitische Bearbeitung vorangegangen sei.
6) In einer Reihe von Artikeln des
Expositor (1891-1893) entwickelt.
7) Wellhausen und Nestle (Philologia
sacra, 1896) haben auch versucht, ein aramäisches Original als Grundlage
unsrer Texte nachzuweisen.
der meisten Veröffentlichungen der letzten Jahre. Man findet sie
ausführlich dargelegt in den neueren Werken von H. H o
l tz m a n n 1), J ü l i ch e r 2),
W e r n l e 3), kürzer bei F. B a r t h 4)
und O. H o l tz m a n n 5); auf französisch
ist sie entwickelt von J. B o v o n 6), A.
R é v i l l e 7) und übersichtlich im C o
m m e n t a r z u m N e u e n T e st a m e n t
von B o n n e t. 8)
Den Standpunkt H. H o l tz m a n n s
haben wir schon angegeben.
J ü l i ch e r setzt mit bewundernswerter
Klarheit die verschiedenen Punkte des Problems auseinander, will aber nicht
ein vollständiges System entwickeln. Er nimmt als Hauptquellen Markus
und die Logia an, die in einer Sammlung von Reden ohne historische Beigaben
bestanden. Matthäus und Lukas benutzen diese beiden Quellen unabhängig
von einander. Außerdem hat jeder seine besonderen Quellen. Zu den
Quellen des Lukas darf der kanonische Matthäus nicht gerechnet werden,
auch ist es nicht wahrscheinlich, daß Markus die Logia benutzt hat.
W e r n l e erkennt in Markus, der gemeinsamen
Grundlage des Matthäus und des Lukas, die Niederschrift des Berichts
eines Augenzeugen (Petrus). Die Redensammlung hat mehrere Überarbeitungen
hinter einander erfahren und verschiedene Formen angenommen, ehe sie als
wesentlicher Bestandteil in die Evangelien des Lukas und des Matthäus
aufgenommen wurde. So wird die Verschiedenheit der beiden Redaktionen verständlich.
Markus und die Logia schöpfen neben einander und unabhängig aus
der mündlichen Überlieferung, woraus sich die Übereinstimmung
zwischen dem zweiten Evangelium und den beiden andern im Texte der Reden
genügend erklärt. Markus hat von den Logia, die älter als
er sind, wohl Kenntnis haben können, aber er hat sie nicht benutzt.
Es darf bei ihm keine andre schriftliche Quelle als für Kap. 13, die
"kleine Apokalypse", angenommen werden; sie stammt aus der Zeit vor dem
Jahre 70 (das Evangelium wurde später verfaßt) und findet sich
Matth. 24 wieder. Lukas benutzt am Anfang und am Schlusse, sowie an andern
Stellen eine dritte Quelle. Matthäus hat ebenfalls seine eignen mündlichen
oder schriftlichen Quellen.
Für F. B a r t h ist Markus
die bemerkenswert genaue und malerische Quelle der beiden andern für
die Thatsachen, hängt aber von den Logia hinsichtlich der Reden ab.
Diese werden bei Matthäus in ihrer ursprünglichen Fassung am
besten wiedergegeben, Lukas hingegen hat sie in der historischen Ordnung
bewahrt, in der sie in der Quelle sich darstellten. Barth hält die
Hypothese eines Urmarkus für überflüssig und weist ausdrücklich
die Annahme von Simons zurück, wonach Lukas Kenntnis von Matthäus
gehabt hätte, der übrigens der Zeit nach der letzte der drei
Synoptiker ist.
O. H o l tz m a n n erkennt den großen
historischen Wert und die gute Ordnung des Markus an, der natürlich
den Erzählungen des Matthäus und des Lukas zu Grunde liegt. Für
die Reden hat er dieselbe Quelle verwendet wie die beiden andern, die die
Reden nicht einander entnommen haben können, da ihr Text zu verschieden
ist. Indes hat Lukas wahrscheinlich Matthäus gekannt und ausnahmsweise
benutzt.
Nach B o v o n verfaßte Matthäus,
als er die palästinensische Kirche verlassen wollte, in der Landessprache
eine Sammlung der Reden Jesu, der er einige erzählende Stücke
hinzufügte. Unter den griechischen Übersetzungen, die
1) E i n l. i n d
a s N. T., 3. Aufl., 1892. H a n d = C o m m.
z u m N. T., I, 1, 3. Aufl., 1901.
2) E i n l. i n
d a s N. T., 3.-4. Aufl., 1901. - 3) D i e s y
n o p t i s ch e F r a g e, 1899.
4) D i e H a u p t p r
o b l e m e d e s L e b e n s J e s u, 1899.
2. Aufl. 1903.
5) L e b e n J e s u,
1901. - 6) T h é o l o g i e d u N. T.,
I, 1893.
7) J é s u s d
e N a z a r e t h, I, 1897.
8) Teil I, 2. Aufl., durchgesehen
von A. Schroeder, 1895.
von dieser Schrift in Umlauf waren, trat unser kanonischer Matthäus
besonders hervor, zu dessen Abfassung der anonyme Verfasser auch mündliche
Überlieferungen und gewisse einzelne Bruchstücke benutzte, die
jetzt in das Markusevangelium aufgenommen sind. Was dieses anlang, so schrieb
der Verfasser, ein Begleiter des Petrus, zuerst seine Erinnerungen aus
der Predigt des Apostels auf, danach arbeitete er diesen ersten Entwurf
selbst aus und verfaßte endlich mit Hülfe andrer Quellen unser
kanonisches Evangelium. Er ist weder Matthäus gefolgt, noch hat er
diesem als Quelle gedient. Ebenso verhält es sich mit Lukas, der weder
Markus noch Matthäus gekannt hat, auch von keinem derselben benutzt
worden ist. Die Übereinstimmungen zwischen den drei erklären
sich aus dem gemeinsamen Gebrauch der Logia des Matthäus, der Erinnerungen
des Petrus in den bruchstückartigen Erzählungen des Markus und
der Sammlungen von Geschichten und Lehren, von denen Lukas in seiner Vorrede
spricht.
R é v i l l e tritt ebenfalls bestimmt
dem Gedanken entgegen, daß irgend einer der Evangelisten das Werk
der beiden andern oder des einen von ihnen gekannt habe. Als gemeinsame
Quellen der drei nimmt er einen Urmarkus an, der von unserm Markus wenig
abweicht, und für Lukas und Matthäus die (anfänglich aramäisch
geschriebenen) Logia des Apostels dieses Namens. Lukas hat außerdem
eine dritte Quelle benutzt, die man in dem Stück Kap. 9, 51 - 18,
14 und wahrscheinlich in der Leidens= und Auferstehungsgeschichte wiederfindet.
Die Sicherheit, mit der die Anhänger der Zweiquellentheorie
diese gern als endgültig festgestellt ausgeben, darf nicht über
den wahren Sachverhalt täuschen. Die Übereinstimmung unter ihnen
ist keineswegs vollständig, und über wichtige Punkte bestehen
noch große Meinungsverschiedenheiten. Die hauptsächlichsten
sind folgende:
1. Hat Markus die apostolische Quelle, die Logia,
benutzt, wie unter andern B. Weiß behauptet?
T i t i u s hat in einem Aufsatz von außerordentlichem
Scharfsinn 1) dieser These entscheidende Beweiskraft dadurch
geben wollen, daß er den bedeutenden Schatz von Lehrstücken,
die Markus und den Logia gemeinsam sind, ins Licht stellte, ferner die
zahlreichen sprachlichen Elemente - darunter manche seltene Ausdrücke
- die sich in beiden Schriften finden, und eine ganze Reihe von Zügen,
die beweisen würden, daß Markus in vielen Fällen keineswegs
die Quelle der Parallelstellen in den beiden andern ist, sondern vielmehr
selbst von einer andern Quelle abhängt, die nur die Logia sein können.
Daraus würde sich ergeben, daß schließlich nicht Markus,
sondern die Logia die erste und Hauptquelle unsrer Synoptiker sind (wie
in der Auffassung von B. Weiß).
Aber diese Behauptung vom Gebrauch der Logia durch
Markus wird von andern Kritikern eifrig bestritten. B e y s ch l
a g hat nicht aufgehört, sich entschieden dagegen auszusprechen,
und ist soweit gegangen, sie als T h o r h e i t zu bezeichnen.
2)
Nach ihm ist die aramäische Redaktion der Logia die gemeinsame Quelle
nur für Lukas und Matthäus, die sie, jeder für sich, übersetzt
haben, "so gut sie konnten," - daher die Verschiedenheiten. W e r
n l e bestreitet ebenfalls jede Benutzung der Logia durch Markus
und bemerkt, die Annahme dieser Benutzung komme darauf hinaus, die Rolle
der petrinischen
1) D a s V e r h ä
l t n i s d e r H e r r e n w o r t e i m M a r
k u s e v. z u d e n L o g i a d e s M a
t t h ä u s, in den T h e o l. S t u d i e n,
B. Weiß dargebracht, 1897.
2) S t u d i e n u n d
K r i t i k e n, 1898.
Tradition bei der Abfassung des zweiten Evangeliums zu vernichten. 1)
S o l t a u spricht sich in Schriften, die wir sogleich erwähnen
werden, in demselben Sinne aus.
2. Hat unser kanonischer Markus selbst, oder ein
Urmarkus, dem Matthäus und Lukas als Quelle gedient?
Die Urmarkushypothese, die ihr Haupturheber (H.
Holtzmann) aufgegeben hat, und die von den meisten Modernen für überflüssig
gehalten wird 2), ist neuerdings von mehreren Kritikern wieder
zu Ehren gebracht worden, zum Beispiel von F e i n e, ebenso
von zwei Schriftstellern, die kürzlich das Markusevangelium, das nach
der allgemeinen Ansicht den festen Grundstock der geschichtlichen Wirklichkeit
darstellt, zum Gegenstande sehr geistvoller und radikaler Studien gemacht
haben. W r e d e 3) glaubt darin die Spur zahlreicher
Umgestaltungen zu finden, die der Bearbeitung, in welcher es auf uns gekommen
ist, vorangegangen sind. Unser Markus hat eine lange Geschichte hinter
sich; es sind die dogmatischen Gesichtspunkte des nachapostolischen Zeitalters,
die sich darin widerspiegeln, und die Thatsachen sind für den Verfasser
meist nur die Hülle der Gedanken. Der historische Wert dieser Schrift
ist also fast gleich Null. Sie beruht übrigens ganz und gar auf einer
Grundidee, die nichts Historisches hat, der Behauptung der Messianität
Jesu, die in Wirklichkeit erst nach seiner Auferstehung aufgestellt worden
ist, hier aber in das Leben des Herrn zurückverlegt wird, freilich
in der Form einer zwar geheimen, aber doch bezeugten Lehre, deren Verkündigung
Jesus fortwährend untersagt. 4)
J. W e i ß 5) hält die
Zweifel Wredes an der Geschichtlichkeit der Erzählung des Markus für
übertrieben. Der Verfasser dieses Evangeliums 6), das von
64-66 verfaßt wurde, ist zugleich Schüler des Petrus, dessen
Erinnerungen er unter Hinzufügung andrer Traditionen ziemlich verschiedenen
Ursprungs sammelte, und des Paulus, dessen Einfluß er sichtlich erfährt.
Weiß tritt für einen Urmarkus ein, der kürzer als der kanonische
ist. 7)
Die Hypothese des Urmarkus ist kürzlich von
H a w k i n s 8) bestritten worden, der durch eine sehr genaue
Prüfung der Sprache der Evangelien festzustellen gesucht hat, daß
Lukas und Matthäus unsern Markus und nicht ein von ihm verschiedenes
Werk vor Augen gehabt haben; ferner von S o l t a u 9),
der diese Hypothese für unhaltbar erklärt, weil man sich den
Urmarkus weder als viel kürzer noch als viel länger als den jetzigen
Markus, folglich auch nicht als wirklich von diesem verschieden vorstellen
kann; endlich von W e r n l e, der das Urteil fällt, die
Urmarkushypothese müsse fortan aus der synoptischen Frage ausscheiden.
1) Wernle widerspricht auch den Behauptungen
von Titius über die Sprache des Markus, in der er keine solche charakteristischen
Züge findet, die seine Abhängigkeit von den Logia erweisen würden.
Übrigens ist nichts so willkürlich als Schlüsse aus derartigen
Beobachtungen. Man wird dies von Neuem finden, wenn man den Aufsatz von
Titius liest.
2) B e y s ch l a g hat
sie fortgesetzt mit Nachdruck vertreten, zuletzt in der 4. Aufl. seines
L e b e n s J e s u (1901-1902).
3) D a s M e s s i a s
g e h e i m n i s i n d e n E v a n g e l i e n,
1901.
4) B a l d e n s p e r g e r
hat in einer bemerkenswerten Kritik des Wredeschen Buches (T h e
o l. L i t t e r a t u r z e i t u n g, 1902, Nr. 14) gezeigt,
daß der Widerspruch, den dieser Markus zuschreibt, noch viel mehr
in seiner eignen Anschauung besteht. O. H o l tz m a n n
hat die Verteidigung der geschichtlichen Glaubwürdigkeit des Markus
unternommen. (D a s M e s s i a s b e w u ß t s e i n
J e s u u n d s e i n e n e u e st e B e st r e
i t u n g, 1902.)
5) D a s ä l t e st e
E v a n g e l i u m, 1903.
6) Der nach J. Weiß kaum der
von der Tradition genannte Johannes Markus sein könnte.
7) Ebenso O. S ch m i
e d e l in seiner kleinen Schrift: D i e H a u p t p
r o b l e m e d e r L e b e n = J e s u = F o r s ch u n g,
1902.
8) H o r a e s y n o p
t i c a e, 1899.
9) U n s e r e E v a n
g e l i e n, 1901.
3. Hat Lukas den Matthäus benutzt, wie Simons
und nach ihm Holtzmann angenommen hat? oder sollte Matthäus Lukas
benutzt haben?
Diese Fragen werden von vielen Kritikern in verneinendem
Sinne beantwortet; sie machen unter anderm die gewaltigen Unterschiede
in der Geschichte der Kindheit und des Leidens und der Auferstehung bei
beiden Evangelisten geltend. Wie könnte man auch annehmen, daß
einer von ihnen, wenn er nach dem Text des andern arbeitete, so viele wertvolle
Stücke daraus unbeachtet gelassen hätte? B e y s ch l a
g erklärt es denn auch unbedenklich als eins der sichersten
Resultate der Kritik, daß Matthäus und Lukas sich gegenseitig
nicht gekannt haben. 1)
4. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Lukas
und Matthäus hat zu der Hypothese eines Urmatthäus Anlaß
gegeben, die besonders S o l t a u entwickelt hat. 2)
Es handelt sich dabei nicht um den Urmatthäus, wie man ihn seit Schleiermacher
allgemein aufgefaßt hat, und der nichts andres als eine Redensammlung
ist, sondern um eine erste Auflage des vollständigen Evangeliums.
Diese erste Bearbeitung soll dazu dienen, die zahlreichen Fälle zu
erklären, in denen der Text des Matthäus mit dem des Lukas zusammentrifft,
von dem des Markus hingegen verschieden ist. Dies Zusammentreffen setzt
in der That eine gemeinsame Quelle voraus, die nicht Markus sein kann;
es ist vielmehr der Urmatthäus, den Lukas nach dem Gedächtnis
benutzt hat. Zu Gunsten der Hypothese sucht man in unserm Matthäus
die Spur von zwei verschiedenen Verfassern nachzuweisen, eines ersten und
eines zweiten Redaktors, von denen der eine universalistisch, antipharisäisch,
nicht dogmatisch ist, und das A. T. nach den LXX citiert wie die Logia,
während der andre der pharisäischen Dogmatik ergeben darauf aus
ist, in der evangelischen Geschichte die Erfüllung des A. T., das
er nach dem hebräischen Texte citiert, nachzuweisen. 3)
Außer den zahlreichen Citaten, die er dem Urmatthäus zugefügt
hat, verdankt man ihm eine gewisse Anzahl von Zügen und Erzählungen,
die einen offenbar legendenhaften Charakter tragen.
In etwas abweichender Form spricht auch Z
a h n von einem Urmatthäus. 4) Die älteste evangelische
Schrift ist das aramäisch verfaßte Werk des Apostels Matthäus.
Dieses hat Markus benutzt, indem er es mit den Erinnerungen des Petrus
verschmolz. Lukas verwendet Markus und fügt das reiche Ergebnis seiner
eignen Nachforschungen hinzu, schöpft aber auch aus schriftlichen
Quellen. Unser griechischer Matthäus endlich ist eine Übersetzung
des Urmatthäus; der Übersetzer benutzt jedoch zu seiner Arbeit
den Text des Markus, der auf diese Weise (wie bei B. Weiß) in doppelter
Beziehung zu Matthäus steht, da er einerseits den aramäischen
Matthäus zur Grundlage hat, andrerseits dem kanonischen Matthäus
als Quelle dient. - Zahn steht jetzt fast allein mit
1) Die Frage nach den Quellen des Lukas
gehört zu denen, die noch keineswegs genügend aufgeklärt
sind. Die einen nehmen an, daß er die Logia bereits griechisch verfaßt
und in derselben Form, wie Matthäus sie kannte, in Händen gehabt
hat. Andre sind der Ansicht, daß der so verschiedene Wortlaut der
Reden in beiden Evangelien es notwendig bedinge, daß die Logia, sei
es auf aramäisch, sei es auf griechisch, beiden Evangelisten in sehr
abweichender Form vorgelegen haben. Nach F e i n e, S o l t
a u und andern hat Lukas sie in einer vom Urtext weit entfernten,
in ebionitischen Sinne umgearbeiteten Form ("Evangelium der Armen, der
Zöllner, der Sünder und der Samariter") gebraucht. Mehrere endlich
stellen in Abrede, daß Lukas sich der Logia bedient habe. - Manche
schreiben Lukas außer den beiden bekannten noch eine große
schriftliche Quelle zu, während andre meinen, daß er die ihm
eignen Stücke aus der Tradition und aus seinen Privaterkundigungen
geschöpft habe.
2) E i n e L ü ck
e d e r E v a n g e l i e n f o r s ch u n g, 1899.
D i e E n t st e h u n g d e s e r st e n E v a
n g e l i u m s, in der Z e i t s ch r i f t f ü
r n e u t e st. W i s s e n s ch a f t, 1900.
3) Siehe hierüber E.
M a s s e b i e a u, Examen des citations de l'A. T. dans l'Evangile
selon St. Matthieu, 1885.
4) E i n l. i n
d a s N. T., II., 1899; 2. Aufl. 1900.
der Behauptung, das erste kanonische Evangelium sei eine Übersetzung.
Man erkennt ihm allgemein den Charakter einer ursprünglich griechischen
Abfassung zu.
5. Die Priorität des Markus gilt vielen gar
nicht mehr für fraglich. Sie ist jedoch neuerdings wieder in Frage
gestellt worden. Wir haben soeben gesehen, daß Zahn Matthäus
den ersten Platz anweist. Ebenso verfahren H a d o r n 1),
H a u ß l e i t n e r 2) und B o l l i g e r. 3)
Diesen Versuchen, hierin die Tübinger Auffassung zu erneuern, läßt
sich ein glänzender Mißerfolg voraussagen.
Die Darstellung, die wir von den hauptsächlichsten
Arbeiten der gegenwärtigen Kritik gegeben haben, zeigt deutlich, daß
es der Hypothese der gemeinsamen Quellen bisher nicht gelungen ist, alle
Schwierigkeiten des synoptischen Problems zu lösen. Die meisten ihrer
Verfechter lassen übrigens einem Erklärungsmittel, das häufig
zu wenig beachtet wird, weiten Raum, nämlich der mündlichen Überlieferung,
aus der unsre drei Evangelisten jeweils geschöpft haben müssen,
welches auch sonst die schriftlichen Quellen gewesen sein mögen, über
die sie verfügten. Die Überlieferung spielt eine wichtige Rolle
bei Beyschlag, Holtzmann, Wernle, Soltau, Hawkins u. a. Sie genügt
nach der Ansicht mancher von ihnen vollständig, um die gemeinsamen
Stücke bei Markus und in den Logia zu erklären.
Der Verfasser des vorliegenden Werkes hat
sie immer als hinreichende Grundlage für die Erklärung der Beziehungen
zwischen unsern Synoptikern aufgestellt.
4) Ebenso B o
n n e t. Eine gründliche Arbeit hat C. V e i t 5)
dem Gegenstande gewidmet. Der Verfasser erinnert an die bedeutsame Rolle,
die die Überlieferung im christlichen Altertum gespielt hat; er giebt
interessante Mitteilungen über die Methode der Rabbinen, die darin
besteht, die Lehre durch Wiederholung dem Gedächtnis einzuprägen,
und spricht die Ansicht aus, da Jesus nichts aufgeschrieben habe, müsse
er die Erhaltung seines Wortes durch dasselbe Verfahren mit seinen Jüngern
sicher gestellt haben, wie diese ihrerseits bei ihrer mündlichen Unterweisung
darüber zu wachen hatten, daß der Kirche dies anvertraute Gut,
das ihr teuerster Schatz war, unverletzt erhalten blieb. Er zeigt, daß
die Unterschiede zwischen unsern Evangelien in Form und Inhalt sich am
besten aus den natürlichen Wandlungen der mündlichen Überlieferung
erklären, und wie künstlich und mit der Lauterkeit und Einfalt
ihrer Verfasser unverträglich das System sei, nach dem sie einander
auf das rücksichtsloseste und willkürlichste ab= und ausgeschrieben,
verbessert und überarbeitet haben sollen. - Diese Schrift, voll richtiger
Bemerkungen, entwickelt mit mehr Nüchternheit, als sonst wohl geschehen,
den Standpunkt, den wir selbst behaupten, und ist in jedem Falle der Beachtung
wert.
Trotz der Länge des Zuges, den wir vorüberziehen
sehen, kann sich der Leser nur eine schwache Vorstellung von der ungeheuren
Summe von Arbeit machen, die seit mehr als einem Jahrhundert darauf verwendet
worden ist, die Lösung des Problems zu finden, welches das Verhältnis
unsrer Synoptiker der Theologie darbietet. Wir haben bei weitem nicht alle
Autoren erwähnt, und bei denen, die wir genannt haben, sind vielfach
dicke Bände in wenigen Zeilen zusammengefaßt worden. Wohl nie
hat eine Frage der Geschichte
1) D i e E n t st e h u
n g d e s M a r k u s = E v a n g e l i u m s, 1898.
2) P r o b l e m e d e
s M a t t h ä u s = E v a n g e l i u m s, 1901.
3) M a r k u s, d e r
B e a r b e i t e r d e s M a t t h ä u s = E v a n g
e l i u m s, 1902.
4) Siehe besonders seinen C
o m m e n t a r z u m E v. d e s L u k a s,
2. (deutsche) Aufl., 1890.
5) D i e s y n o p t i
s ch e n P a r a l l e l e n u n d e i n a l t
e r V e r s u ch i h r e r E n t r ä t s e l u n
g m i t n e u e r B e g r ü n d u n g, 1897.
oder der Wissenschaft solche Anstrengungen hervorgerufen. Welches auch
der Wert der erlangten Resultate sei, es liegt darin eine einzigartige
Huldigung weniger den Werken, um die es sich handelt, als der Größe
dessen gegenüber, von dem sie allein uns eine echte Erinnerung bewahrt
haben.
Hat nun diese mühevolle Forschung zu einem
einigermaßen sicheren Ergebnis geführt? Es läßt sich
kaum bejahen. Wir sahen, wie die Hypothese der zwei Quellen, die von vielen
eine zeitlang als eine endgültige Lösung angesehen wurde, das
Los der von Eichhorn teilte, die ebenfalls etwa zwanzig Jahre hindurch
als das letzte Wort in der Frage galt. Ihr hervorragendster Vertreter hat
sie, man kann sagen, fallen lassen, um seit der Schrift Simons' sich einer
andern zuzuwenden, die die directe Benutzung des Markus durch Matthäus
und des Matthäus und Markus durch Lukas annimmt. Schließlich
erscheint wieder unter verschiedenen Formen die Hypothese eines aramäischen
Urevangeliums, die uns zu dem Ausgangspunkt dieser langen Arbeit, der Anschauung
Lessings, zurückführt.
Sollen wir es nach dieser Erfahrung wagen, die Untersuchung
wieder zu eröffnen? Wir müssen wohl, um so mehr als diese Erfahrung
selbst zu beweisen scheint, daß man im allgemeinen fehlgegangen ist,
und daß die einfachste Lösung zugleich die ist, bei der man
früher oder später stehen bleiben wird.
Wir können alle die verschiedenen Systeme,
die wir dargelegt haben, nicht einzeln durchgehen und prüfen. Die
einzig mögliche Methode besteht in der Besprechung des inneren Wertes
der Materialien, aus denen sie aufgebaut sind. Wir prüfen also nacheinander
die drei Erklärungsarten, auf die diese verschiedenen Systeme sich
zurückführen lassen:
1. Die directe Benutzung der Evangelien durcheinander,
2. Die Benutzung gemeinsamer schriftlicher Quellen,
3. Die Benutzung einer gemeinsamen rein mündlichen
Quelle (der apostolischen Tradition).
Ich verhehle mir nicht, daß die Thatsachen
für ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit oder gemeinsamen
litterarischen Ursprungs irgend welcher Art zu sprechen scheinen. Die Übereinstimmung
im allgemeinen Plane der drei Evangelien, die völlig gleichen Erzählungsreihen,
die Stücke, welche bis in die Einzelheiten der Form zusammentreffen,
begünstigen diese Auffassung, ja scheinen ihr den Charakter der Gewißheit
zu verleihen. Doch lassen wir uns nicht durch den Anschein verleiten, prüfen
wir genau und urteilen dann.
[Top]
Hier bieten sich neun Möglichkeiten dar, denn jedes der drei Evangelien kann unter dem Einfluß eines der beiden andern oder beider verfaßt sein, was drei mögliche Combinationen für jedes ergiebt.
1) Zum Studium des Verhältnisses der Evangelien untereinander wird man sich mit Nutzen der synoptischen Ausgaben bedienen (s. S. 70), wie der S y n o p s e n von de Wette und Lücke (1818. 1842) und von Tischendorf (1854. 1878), dann besonders der neueren Arbeiten: des S y n o p t i k o n von Rushbrooke (1880), A S y n o p s i s o f t h e G o s p e l s von Wright (1896), der s y n o p t i s ch e n P a r a l l e l e n von Veit (1897) und der S y n o p s e d e r d r e i e r st e n E v a n g e l i e n von Huck (1892, 2. Aufl. 1898). Diese, welche nach dem H a n d = C o m m e n t a r von Holtzmann angeordnet ist, bietet ein bequemes Hülfsmittel. - Die C o n c o r d a n c e d e s é v a n g i l e s s y n o p t i q u e s von E. Morel und G. Chastand (Lausanne, 1901) wird den Lesern, die den griechischen Text nicht benutzen können, gute Dienste leisten.
[...]
[Top]
I. Unter den Grundzügen der Einheit,
auf denen die innige Gemeinschaft der Herzen in der Urgemeinde zu Jerusalem
ruhte, nennt der Bericht der Apostelgeschichte an erster Stelle d i e L
e h r e d e r A p o st e l (didaxh& tw=n a)posto/lwn,
2, 42). Derselbe Bericht zeigt uns die Zwölf, wie sie den s i e b
e n Erwählten der Gemeinde das „Dienen bei Tische" überließen,
um sich ausschließlich dem D i e n st a m W o r t e (diakoni/a
tou= lo/gou), 6, 4) zu widmen. Worin bestand dieser Dienst am Worte?
Was enthielt diese Lehre?
Es konnte keine systematische Darlegung des Heilsplans
sein, wie sie sich später aus den großen Thatsachen des Todes
und der Auferstehung Jesu in dem Geiste des Paulus entwickelte und wie
wir sie im Römerbriefe finden. Es war offenbar etwas viel Einfacheres
und den Bedürfnissen der entstehenden Gemeinde Angemesseneres, eine
vor allem historische Unterweisung, wie dies aus der Thatsache hervorgeht,
daß mit der Erfüllung dieser apostolischen Aufgabe nicht die
tiefsten Denker der Gemeinde betraut wurden, sondern solche, die die Wirksamkeit
Jesu von der Taufe des Johannes bis zur Himmelfahrt gesehen hatten (Ap.
Gesch. 1, 21. 22), vergl. Joh. 15, 27: „Ihr werdet meine Zeugen sein, weil
ihr von Anfang an bei mir gewesen seid."
Die Apostel hatten zwei Arten von Hörern vor
sich, solche, die dem Glauben noch fern standen, und solche, die bereits
in Jesu den verheißenen Messias erkannt hatten. Für jene ereignete
sich ein zusammenfassendes Zeugnis von dem Leben, dem Tode und der Auferstehung
Jesu mit einigen Beweisstellen aus den Propheten, wie wir es zum Beispiel
in der Pfingstpredigt des Petrus (Kap. 2) und der bei Cornelius haben (Kap.
10), oder auch in der Rede des Paulus vor den Juden zu Antiochia in Pisidien
(Kap. 13). Aber es ist unrichtig, daraus zu schließen, wie
H o l tz m a n n thut 1), daß es in den Versammlungen
der Gläubigen ebenso gehalten werden mußte. Die Apostel hatten
nicht allein die Leute zum Glauben zu führen, sondern auch die Gläubigen
in diesem Glauben zu unterweisen und zu befestigen, ihnen das Bild Christi
einzuprägen, seine Vorschriften und Lehren, die die Lebensregel der
Gemeinde und jedes ihrer Glieder werden sollten, ihnen mit unauslöschlichen
Buchstaben ins Herz zu schreiben. 2) Indem sie so in den Versammlungen
der Gläubigen immer von Neuem das Bild der Thaten des Lebens Christi
wiederholten, suchten sie damit die besonderen darauf bezüglichen
Weissagungen, durch die jene Thaten als messianisch im Voraus angekündigt
waren, zur Stärkung des Glaubens zu verbinden. 3) So bei
Gelegenheit der Wirksamkeit Johannes des Täufers die Weissagungen
des Maleachi und Jesaja (Mark. 1, 2. Matth. 11, 10. Luk. 7, 27. Joh. 1,
23), aus Anlaß der Niederlassung Jesu in Kapernaum die Weissagung,
in der Jesaja gegen alle Erwartung Galiläa zum Schauplatz der messianischen
Thätigkeit macht (Matth. 4, 13), bei der Darstellung des unscheinbaren
Werkes Jesu die Weissagung vom Knechte Jehovahs bei Jesaja (12, 17), bei
der Erzählung der Gleichnisse das Wort Assaphs (13, 35) usw. Dies
ist, wie W e i z s ä ck e r es nennt, "das messianische
1) S y n o p t. E v a n
g e l i e n, S. 51. 52.
2) Siehe die Entwickelung dieses Gedankens
und seiner Folgen für die Bildung der Tradition in der vorzüglichen
Schrift V e i t s, E n t r ä t s e l u n g d e r
s y n. P a r., II, S. 74 ff.
3) "Die Ausführung des messianischen
Lebens, sagt Renan, untermischt mit Stellen aus den alten Propheten, die
immer dieselben waren, und so bemessen, daß sie in einer Zusammenkunft
vorgetragen werden konnte, nahm früh eine feste Form an in Ausdrücken,
die, wenigstens dem Sinne nach, fast unveränderlich waren. Nicht nur
die Erzählung folgte einem bestimmten Plane, sondern auch die charakteristischen
Ausdrücke standen fest. Der Rahmen des Evangeliums bestand so vor
dem Evangelium." (L e s E v a n g i l e s, S. 94.)
Beweisverfahren", welches mehr ein gemeinsamer Bau, zu dem jeder einen
Stein herbeitrug, als das Werk eines einzelnen war. 1)
W e i z s ä ck e r bemerkt sehr richtig,
daß diese unablässig wiederholte Darstellung nicht dem Zufall
individueller Eingebungen ausgesetzt werden durfte, sondern von Anfang
an einer bestimmten Regel unterliegen und feste Formen annehmen mußte.
Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur an den Umstand zu denken,
daß es sich bei einer solchen Erzählung nicht um eine persönliche
Erinnerung, um ein liebevolles Gedenken des Erzählers handelte, sondern
daß sie von Anfang an den bestimmten Zweck hatte, den Interessen
der Gemeinschaft zu dienen. Die Apostel hatten nicht allein die Gemeinde
zu werben oder sie zu unterrichten, sondern sie zu bilden, zu schulen,
eine Lebensregel für ihre Glieder vorzuzeichnen, unausgesetzt über
ihren Fortschritt Aufsicht zu üben. Die Tradition mußte also
sogleich den Charakter einer feststehenden Lehre annehmen, vor allem sofern
sie die Worte Jesu betraf, aber auch hinsichtlich der Thaten seines Lebens.
Wohl waren einzelne Beiträge der Zeugen nicht ausgeschlossen, aber
die gemeinsame Arbeit bestimmte die angenommene Erzählungsweise und
stellte sie zum Zweck späterer Ubermittelung fest. - So denkt
W e i z s ä ck e r 2), und wir dürfen in der That
gewiß sein, daß es nicht jedem zustand, nach seinen persönlichen
Erinnerungen Lehren von solcher Bedeutung in Umlauf zu setzen und sie selbst
einem Paulus als Regeln für das Verhalten der Christengemeinden vorzuschreiben.
Allein ein Mund durfte sich vor allem als berechtigt ansehen, in dem Stück,
bei dem jeder der Apostel mitwirkte, den Ton anzugeben, und darin von allen
anerkannt zu werden, der des Petrus. Immerhin, wenn auch kein andrer so
wie er geeignet war, den Bericht über die Begebenheiten des Lebens
Jesu aufzustellen, verhielt es sich doch vielleicht nicht ebenso hinsichtlich
der Lehrstücke. Der oder jener seiner Genossen besaß vielleicht
eine bessere Auffassungsgabe, ein schärferes Gedächtnis und war
daher geeigneter, den genauen Wortlaut der Aussprüche des Meisters
wiederzugeben. Die Tradition nennt uns Matthäus als den, der die Reden
des Herrn zuerst niederschrieb. Wie man auch über den Ursprung unsers
1. Evangeliums denken mag, die Thatsache, daß es von der Urkirche
allgemein diesem Apostel zugeschrieben wurde, kann nicht wohl jedes Grundes
entbehren. Warum würde sonst gerade er genannt? Wir haben darin ein
Anzeichen für den Anteil, den Matthäus wahrscheinlich an der
Bildung der apostolischen Tradition hinsichtlich der Lehre Jesu genommen
hat. Und in der That bilden die Reden des Herrn den wesentlichen Inhalt
des Evangeliums, das seinen Namen trägt.
Wir würde so zu der Annahme geführt, daß,
wenn Petrus bei Feststellung des erzählenden Elements der Tradition
die Hauptrolle übernahm, es Matthäus war, der den bedeutendsten
Beitrag zur Darstellung ihrer Lehre lieferte.
Die doppelte Ueberlieferung der Thatsachen und der
Reden erhielt sicherlich ihre ursprüngliche Form in der aramäischen
Sprache. 3) Dies war die Sprache,
1) A p o st o l. Z e i
t a l t e r, S. 383 u. 385.
2) Eine Bestätigung dieser Anschauungsweise
würden wir in der Art finden, wie Paulus Vorschriften Jesu mehrfach
benutzt hat, so wie sie in der Kirche überliefert waren und nunmehr
zu der apostolischen Regel gehörten, - zum Beispiel 1. Cor. 6, 7 (vergl.
Mt. 5, 39. 41. Lukas 6, 29, das Unrecht leiden), 1. Cor. 7, 10. 11
(Mt. 5, 32. Mk. 10, 11. Lk. 16, 18, über die Scheidung),
1. Cor. 9, 14. 1. Tim. 5, 18 (Mt. 10, 10. Luk. 10, 7, der Lohn
der Diener Christi), 1. Thess. 5, 1 ff. (Mt. 24, 42-44. Mk. 13, 35.
36. Lk 21, 34. 35, die Wachsamkeit, die Parusie), usw., - wenn die
Anzahl und die Art dieser Parallelen uns nicht vielmehr anzunehmen bestimmte,
daß Paulus schon das Buch der Logia selbst vor Augen gehabt hat.
Siehe unsre Ausführung über die Benutzung dieses Werkes im N.
T., S. 129-131.
3) Siehe darüber D a l
m a n (W o r t e J e s u, I, S. 13 ff.).
deren Jesus sich gewöhnlich bedient hatte, wie wir aus den semitischen
Ausdrücken ersehen, die Markus häufig wiedergiebt, um die
i p s i s s i m a v e r b a des Herrn zu erhalten (S. 399).
Dieser Umstand ist in der Frage, die uns beschäftigt, nicht ohne Interesse.
Zunächst ist es uns wichtig zu wissen, daß die Tradition in
derselben Sprache, in der die Aussprüche gethan wurden, eine feste
Gestalt gewann, sodann ist zu bemerken, daß diese Sprache gerade
durch ihre Armut am besten geeignet war, große Abweichungen bei der
Wiedergabe zu verhüten.
Übrigens war die Rede Jesu solcher Art, daß
sie leichter als jede andre zu behalten war. Sie besitzt einen so besonderen
Charakter, ein so originales Gepräge, eine so plastische Form, einen
so ergreifenden Ernst, daß es nicht mehrmaligen Hörens bedurfte,
um sie dauernd dem Gedächtnis des Hörers einzuprägen. "Was
seid ihr hinausgegangen in die Wüste zu sehen? Ein Rohr, das der Wind
hin und her weht? . . . Sehet die Vögel unter dem Himmel an . . .
Sehet die Lilien auf dem Felde . . . Dieses Geschlecht ist den Kindern
gleich, die auf dem Markte spielen und sich zurufen . . . Jerusalem, Jerusalem,
die du tötest die Propheten! . . ." Wer könnte solche Worte vergessen,
wenn er sie auch nur einmal gehört hatte? 1) Diese Art
der Beredsamkeit erfaßte den ganzen Menschen, das Gewissen durch
ihre innere Wahrheit, den Verstand durch die Hoheit des Gedankens, die
Einbildungskraft durch die Klarheit der Form und die Neuheit der Bilder,
das Herz durch die Tiefe des religiösen Gefühls. Während
so die Lehre des Meisters gleich einem scharf geschnittenen Stempel dem
Geiste der Jünger aufgedrückt wurde, nahm dieser wie frisches
und völlig geschmeidiges Wachs den Eindruck unauslöschlich auf.
Dieses Gepräge ist der apostolischen Tradition aufgedrückt geblieben.
Erscheinungen dieser Art sind nicht ohne Beispiel,
zumal im Orient, wo, wie R e n a n sagt, mehr als sonst überall,
die wörtliche Wiedergabe älterer Texte die Regel ist. "Eine wasserdichte
Cisterne, die keinen Tropfen Wassers entschlüpfen läßt",
das ist das Ideal Israels. 2) Man kann sich von dieser Gedächtnisarbeit
nach den Worten, die der Verfasser der Clementinischen Recognitionen (etwa
160-170) 3) Petrus in den Mund legt, einen Begriff machen: "Nach
Mitternacht erwache ich von selbst, und der Schlaf kehrt nicht wieder.
Das kommt aus meiner Gewohnheit, meinem Gedächtnis die Worte des Herrn
zu wiederholen, die ich von ihm selbst gehört habe, damit ich sie
treu behalten kann." (Recogn. II, 1). Es ist bekannt, daß der enorme
rabbinische Ballast erst schriftlich niedergelegt wurde, nachdem er lange
Jahrhunderte hindurch mündlich überliefert worden war. Die Litteratur
des Rig-Veda in Indien hat sich nach Max Müller mit seinen 1028 Liedern
und 16 448 Versen ohne Mithülfe der Schrift Jahrhunderte hindurch
erhalten. 4)
Das Problem, welches uns beschäftigt, hat es
weniger mit den Aposteln selbst zu thun, als mit den von ihnen unterwiesenen
Evangelisten, deren Aufgabe es war, als berufene Verkündiger der Geschichte
und der Lehre Jesu die
1) Vergl. die schönen Worte bei
H. H o l tz m a n n (H a n d = C o m m., I, 1, 3. Aufl.,
S. 22).
2) R e n a n, L e s
E v a n g i l e s, S. VI und 5-6.
3) Dies war die bisher allgemein angenommene
Zeitangabe. Neuere Arbeiten scheinen festzustellen, daß die Abfassung
der C l e m e n t i n e n (H o m i l i e n und
R e c o g n i t i o n e n) nicht über das 3. oder selbst den
Anfang des 4. Jahrhunderts hinaufreicht. Siehe H a r n a ck,
C h r o n o l o g i e d e r a l t ch r i st l. L i t
t e r a t u r, 1904, II, S. 518-540.
4) R e n a n sagt (L e
s E v a n g i l e s, S. 94): "Die Vedas sind durch Jahrhunderte
gegangen ohne geschrieben zu werden. Ein Teil der jüdischen Thora
muß mündlich gewesen sein, ehe er aufgeschrieben wurde. Der
Talmud hat ungeschrieben fast zweihundert Jahre bestanden." Über die
in den jüdischen Schulen gebräuchliche Lehrmethode siehe
S ch ü r e r, G e s ch. d e s j ü d.
V o l k e s, 3. Aufl., II, S. 323-325.
Gemeinden zu durchwandern; es kam darauf an, ihnen den Wortlaut der
apostolischen Tradition, vor allem hinsichtlich der Worte des Herrn, so
genau wie möglich einzuprägen. 1) Bei der Wiedergabe
der geschichtlichen Scenen war größere Freiheit zulässig.
[Top]
II. Ein entscheidender Augenblick
war es, als die anfänglich aramäische Tradition in eine fremde
Form - die der griechischen Sprache - gegossen werden mußte, aus
der sie festgefügt und gleichsam kristallisiert hervorging, so wie
sie in unsern Synoptikern erscheint und mit ihnen den Weltkreis durchlaufen
sollte. Die Apostelgeschichte erzählt uns (Kap. 6), daß die
Witwen der griechisch redenden Juden zu Jerusalem, der Hellenisten (
9Ellhnistai/), sich darüber beklagten, daß sie bei der
täglichen Brotverteilung hinter denen der hebräisch redenden
(der 9Ebrai=oi) zurückgesetzt würden,
und daß die Gemeinde, um diese Klagen zu stillen, die sieben sogenannten
Diakonen erwählte, welche nach ihrem Namen alle oder fast alle Hellenisten
waren. Angenommen, die aramäische apostolische Tradition wäre
lange Zeit das einzige Mittel für die geistliche Speisung der Gemeinde
gewesen, wieviel ernster und besser begründet hätten nicht die
Klagen der gläubigen Hellenisten sein müssen!
2) Es
mußte also bald zur Übersetzung der apostolischen Tradition
ins Griechische geschritten werden. Hier lassen sich die so richtigen Bemerkungen
W e i z s ä ck e r s über die Bildung der ältesten
evangelischen Erzählung in noch höherem Maße anwenden.
Die fragliche Arbeit konnte keine rein individuelle Sache sein; die Zukunft
der Kirche war zu ernstlich dabei beteiligt. Eine befugte Hand mußte
die Leitung übernehmen, ein Einverständnis über die Wiedergabe
der semitischen Ausdrücke sich bilden. Hat nicht hier Matthäus
wieder den vorwiegenden Einfluß geübt? Als ehemaligem Zöllner
war ihm das Griechische so vertraut wie das Aramäische. So ist es
nicht zu verwundern, daß W e tz e l 3), wenn er
von der Idee eines den Evangelisten zur Vorbereitung auf ihren Beruf zu
Jerusalem erteilten Unterricht ausgeht, diesen Apostel als Inhaber des
Lehrstuhls erwählt hat, unter dem die Hörer - unsre drei Synoptiker
inbegriffen - ihre Vorträge, die die Grundlage unsrer evangelischen
Schriften wurden, aufschrieben. Die Form ist sicher sehr modern; die Hypothese
der mündlichen Überlieferung wird hier, man kann fast sagen zum
Zerrbild. Die Wahl aber, die Wetzel auf Matthäus lenkt, ist nicht
ganz willkürlich.
Wenn es wahr ist, daß die Übertragung
der aramäischen Tradition ins Griechische einer gewissen Aufsicht
unterlag, wie dies kaum zu bezweifeln ist, so erklärt sich daraus
eine Thatsache, die vielfach für die gegenseitige Benutzung unsrer
Synoptiker angeführt wird, nämlich der gemeinsame Gebrauch gewisser
wenig üblicher griechischer Ausdrücke bei der Wiedergabe hebräischer
Worte, die Jesus anwendete. So in der Versuchungsgeschichte pteru/gion,
das unsre
1) V e i t
hat in interessanter Weise den Gedanken ausgeführt (D i e
s y n o p t. P a r a l l e l e n, S. 88-104), daß eine
sichere Erhaltung der Worte des Meisters nur durch die rabbinische Methode
der öfteren W i e d e r h o l u n g erzielt werden konnte
(deute/rwsij, hebr. m i s c h n a = Lehre).
Er wendet dies nicht nur auf die Unterweisung der Evangelisten durch die
Apostel an, die sie aussandten, sondern auf die Lehrweise Jesu selbst,
der in den Unterredungen mit den Jüngern die Methode des Wiederholens
angewendet hätte, um sie seine Worte auswendig lernen zu lassen und
so deren Erhaltung zu sichern. - Ohne leugnen zu wollen, daß Jesus
bisweilen dieselben Lehren mehrmals wiederholt habe, können wir uns
doch die Apostel nicht vorstellen, wie sie unter seiner Leitung derartige
Memorierübungen getrieben hätten. Jesus hat jedenfalls seinem
Worte das Vermögen zugetraut, sich selbst ihrem Geiste einzuprägen.
2) Es ist aber viel zu weit gegangen,
wenn aus der Rolle, die die Hellenisten in der Apostelgeschichte spielen,
geschlossen wird, daß die Apostel selbst auf griechisch gelehrt hätten
(C. V e i t, a. a. O., S. 74), und daß die evangelische
Tradition von Anfang an eine griechische Form erhalten habe (W e
tz e l, D i e s y n o p t. E v a n g., S. 143).
3) Siehe hierüber S. 355 und
die Schrift von W e tz e l, S. 143 ff.
Übersetzungen mit Z i n n e n wiedergeben, und das
hier wohl dem hebräischen k a n a p h, Flügel, entspricht
(wie öfter in den LXX; der Ausdruck findet sich auch bei Josephus),
- im Vaterunser e)piou/sioj, das mit
t ä g l i ch übersetzt wird, und das nach manchen dem Ausdruck
l e c h e m m a c h a r "das Brot für den morgenden Tag"
entspricht (von e)piou=sa = der kommende Tag),
oder wohl eher l e c h e m c h u k k i, Sprüchw.
30, 8 "das Brot m e i n e s A n t e i l s" (von e)pi&-ou)si/a,
ausreichend für den Bedarf).
[Top]
III. Wie lange dauerte diese Periode
rein mündlichen Zeugnisses? Wir wissen es nicht; aber sicher ist,
daß sie von der der Abfassung unsrer Evangelien durch einen Übergang
geschieden worden ist. Der Prolog des Lukas bürgt dafür, in dem
er von zahlreichen Schriften vor der seinigen redet; von den meisten derselben
ist zur Stunde sicher keine Spur erhalten. Diese Schriften der polloi/,
die bereits das Ganze der evangelischen Geschichte umfaßten 1),
waren, wie man vermutet hat, durch den Vorgang weniger umfangreicher vorbereitet,
die noch nicht darauf Anspruch machten, vollständige und logisch geordnete
Erzählungen zu sein. 2) Zunächst beschränkte
man sich darauf, einen Vorfall oder eine Rede niederzuschreiben. Dies that
ein Evangelist, dessen Predigt diese Urkunde als Anhalt dienen sollte,
oder ein Hörer, der den Wunsch hatte, die Scene oder die Rede, die
er vernommen hatte, in ihrer Reinheit und Frische zu erhalten. Diese Erzählungen,
die der apostolischen Tradition entlehnt waren, dem Schatz, aus dem jeder
schöpfte, wie R e n a n sagt, mußten, wie diese,
in griechischer oder aramäischer Sprache geschrieben sein. Gewisse
Reihen von Scenen, die ein inneres oder ein chronologisches Band an einander
knüpfte, konnten dabei vereinigt werden; so die Sabbatscenen (Mt.
12, 1-8. 9-14; Mk. 2, 23-28. 3, 1-6; Lk. 6, 1-5. 6-11), die Unterredungen
mit denen, die Jesu nachfolgen wollten (Mt. 8, 19-22; Lk. 9, 57-62), -
die drei Erzählungen von der Beratung des Sanhedrin, der Salbung der
Maria und dem Verrat des Judas (Mt. 26, 3-14; Mk. 14, 1-11), deren innerer
Zusammenhang auf der Hand liegt, - oder chronologische Reihen wie die folgenden:
die Wirksamkeit Johannes des Täufers, die Taufe Jesu, die Versuchung
und Rückkehr nach Galiläa (Mt. 3, 1-4, 17. Mk. 1, 1-15.
Lk. 3, 2-4, 15), - der Besessene von Kapernaum, die Heilung der Schwiegermutter
Petri, die Heilungen am Abend desselben Sabbats, das Entweichen Jesu am
folgenden Morgen (Mk. 1, 21-39. Lk. 4, 31-44), - der Tag der Gleichnisse,
der Seesturm, der Besessene von Gadara, die Erweckung der Tochter des Jairus
(Mk. 4, 1-5, 43. Lk. 8, 4-56), - die Reden über die Waschungen,
das kananäische Weib, die zweite Speisung, die Forderung eines Zeichens,
der Sauerteig der Pharisäer; eine ganze Gruppe, die bei Lukas völlig
fehlt, - dann der Cyclus am Ende des Aufenthalts in Galiläa: Caesarea
Philippi, die Leidensverkündigung, die Verklärung, der Mondsüchtige,
nochmalige Leidensverkündigung, der Streit der Jünger, das Vorbild
des Kindessinns, der fremde Jünger, das Ärgernis (Mt. 16, 13-18,
9. Mk. 8, 27-9, 50. Lk. 9, 18-50).
Wir haben gesehen, daß R e n a n
es sich so vorstellte, als sei das Wirken des Herrn gewöhnlich in
einer einzigen Zusammenkunft erzählt worden. Das wäre dann nur
in sehr gedrängter Kürze möglich gewesen. Ich würde
eher denken, daß eine dieser Gruppen, dieser "corpuscula historiae",
wie sie L a ch m a n n nannte, den Gegenstand einer Zusammenkunft
bildete. Dann wird es leichter verständlich, wie eine dieser Gruppen
als Ganzes einem Evan=
1) Das geht aus den Ausdrücken
des Lukas (V. 1) hervor: dih/ghsin peri& tw=n
peplhroforhme/nwn e)n h(mi=n pragma/twn.
2) Siehe S. 394 und 399.
gelisten entgehen konnte. Wir hätten da die Erklärung der
großen Lücke bei Lukas 1), über die die Anhänger
der Abhängigkeitstheorie keinerlei Auskunft geben konnten.
Wenn wirklich derartige kleine Schriften, sei es
auf aramäisch, sei es auf griechisch, vorhanden waren, wie sollte
man nicht frühe gesucht haben, sie so vollständig wie möglich
zu vereinigen, um unter Hinzufügung des Berichtes über die Reise
nach Jerusalem und über die letzte Woche in der Hauptstadt zu den
galiläischen Wirken ein Ganzes zu schaffen? So entstanden die Werke
der polloi/, die Lukas als Vorläufer des
seinigen nennt. Der Ausdruck, a)nata/casqai dih/ghsin,
eine Erzählung verfassen, kann eine Anordnung von Thatsachen bedeuten,
um daraus einen folgerichtigen Bericht zu bilden; noch natürlicher
bezeichnet er eine Anordnung von Materialien, um ein Werk herzustellen.
Diese Schriften waren die vorbereitende Stufe für die mehr organischen,
mehr einheitlichen, aus einem Guß geschaffenen Arbeiten, die wir
in unsern Evangelien haben. 2)
In dem bisher gesagten besitzen wir die erforderlichen
Grundlagen, um uns von ihrer Abfassung Rechenschaft zu geben.
[Top]
IV. Wie an verschiedenen
Stellen der Erdoberfläche, und in manchen Gegenden mehr als anderswo
der granitne Unterbau zu Tage tritt, auf dem die späteren Formationen
ruhen, so wird in unsern synoptischen Evangelien mehr oder weniger, in
manchen Abschnitten mehr als in andern, der gemeinsame Boden der jerusalemischen
apostolischen Erzählung sichtbar, der allen einzelnen Berichten, die
sich später daran anschlossen, als Grundlage dient.
Ganz sicher - hierin herrscht nahezu Einmütigkeit
- findet sich diese Tradition in der am meisten entsprechenden Form in
der Erzählung des zweiten Evangeliums. Markus hatte sie von seiner
Jugendzeit an, die er in Jerusalem verlebte, gleichsam an der Quelle eingesogen.
Später, als er Petrus auf seinen Missionsreisen begleitete, hatte
er sie von ihm wieder und wieder vernommen 3), und zwar so,
daß der Apostel sie je und je durch irgend einen frappanten Zug bereicherte,
den ihm seine persönliche Erinnerung im Augenblick eingab; so der
Blick voll Liebe, mit dem Jesus den reichen Jüngling ansah, das Kissen,
auf dem er im Schiffe ruhte, die von den Aposteln bei ihrer ersten Aussendung
geübte Salbung mit Öl usw., ebensoviele kleine Züge, die
in den beiden andern Synoptikern fehlen, und durch die Petrus in freier
Weise seine Erzählung in organischer Verschmelzung mit der Tradition
ausschmückte, zu deren Haupturhebern er gehörte. Die Geburts=
und Kindheitsgeschichte hatte in der ältesten Tradition keinen Platz
erhalten, sie trat erst später und für solche hervor, in deren
Augen die messianische Würde Jesu bereits eine feststehende Thatsache
war. Daher findet sie sich auch nicht bei Markus.
Als er für die Römer sein Evangelium schrieb,
hatte Markus keineswegs die Absicht, ihnen ein vollständiges Bild
der Geschichte Jesu und eine systematische Darstellung seiner Lehre vorzuführen;
es kam ihm ausschließlich darauf an, ihnen die Idee und den Eindruck
seiner göttlichen Macht und Weisheit zu vermitteln, und ihnen zu dem
Ende eine Anzahl von Zügen vorzulegen, an denen die Augenzeugen seines
Lebens den "Sohn Gottes" in ihm erkannt hatten (1, 1); er entnahm diese
Züge der Tradition, die er in Jerusalem und aus dem Munde des Petrus
so oft vernommen hatte. Diesem Ursprung
1) Die Gruppe Mt. 14, 22-16, 12 und
Mk. 6, 45-8, 26.
2) In dem eben angegebenen Sinne soll
präcisiert werden, was wir S. 293 und in unserm C o m m.
ü b e r d a s E v a n g. d e s L u k a s,
2. Aufl. (deutsch) S. 46 gesagt haben.
3) "Wenn je eine Darstellung den Eindruck
erweckt, auf die Erzählung eines Augenzeugen zurückzugehen, so
ist es die des Markus", sagt W e r n l e (S y n o p t.
F r a g e, S. 205).
entspricht auch der Stil des Markus. Es ist griechisch, wie es ein Hebräer
schreibt, der diese Sprache nicht in ihrer klassischen Form kennt, sondern
sie im täglichen Gebrauch so wie man sie in Palästina redete,
gelernt hat, - etwa so wie die Verfasser der LXX sie sich in Alexandrien
angeeignet hatten. Demgemäß handhabt er sie nicht ohne eine
gewisse Ungeschicklichkeit, und man findet aus seiner Feder vielfach unwillkürliche
Hebraismen, wie es bei einem Juden zu erwarten war, der unter diesen Umständen
eine Geschichte aus jüdischer Umgebung und in jüdischer Sprache
gehaltene Reden erzählt.
Der Verfasser des ersten Evangeliums ist gleich
Markus Hebräer von Geburt, aber im Besitz einer höheren Bildung;
er handhabt die griechische Sprache mit größerer Leichtigkeit,
Gewandtheit und Sicherheit. Was den Inhalt anlangt, so schöpft er
zum Teil aus derselben Quelle, der aramäischen oder griechischen jerusalemischen
Tradition; man erkennt sie in einer ganzen Reihe von Stellen, die denen
im Markus parallel sind. Allein seine Wiedergabe der Tradition ist zu frei
in der Form und oft zu sehr von der des Markus abweichend, als daß
eine der beiden Schriften von der andern abhängig sein könnte.
Auch zeigt sie sich hier eigenthümlich bedingt. Zunächst ist
die ganze Schrift, anstatt wie die des Markus einfach historisch zu sein,
dem Nachweis einer These gewidmet, nämlich der der Messiaswürde
Jesu trotz seiner Verwerfung durch Israel. Der Verfasser hält sich
also viel weniger an die Beschreibung der Begebenheiten als an ihre Bedeutung.
Er kürzt die Erzählungen ab, um desto mehr Nachdruck auf das
Wort Jesu zu legen, das ihre Tragweite kennzeichnet. Anstatt die Thatsachen
in ihrer chronologischen Reihenfolge zu erzählen, ordnet er sie nach
Gruppen, deren jede er in das Licht eines prophetischen Wortes stellt,
welches ihr den messianischen Charakter aufprägt. Endlich schaltet
er an verschiedenen Stellen seiner Erzählung abschnittweise ein vollständiges
älteres Werk des Apostels Matthäus ein, das nicht einem historischen,
sondern einem didaktischen Zwecke diente und in dem der Apostel die Hauptlehren
Jesu nach bestimmten Gesichtspunkten gesammelt hatte, nach W e i
z s ä ck e r s Ansicht so, wie sie ihm am meisten geeignet erschienen,
dem Leben der Kirche und dem Wandel ihrer Glieder das Gepräge aufzudrücken,
das dem Willen Christi entsprach. Zu diesem Zweck führte das Werk
den Gläubigen das von Jesu gezeichnete Ideal der Gerechtigkeit vor
Augen (Mt. 5-7), sodann die Aufgabe, die er den Aposteln und der Kirche
Israel gegenüber bis zu der Zeit gestellt hatte, wo die von ihm angekündigte
Katastrophe der Existenz des Volkes ein Ende machen würde (Kap. 10);
ferner den neuen Zustand des geistlichen Lebens oder das Himmelreich, das
eben erschien, um die alte dem Untergange verfallene Ordnung der Dinge
zu ersetzen (die Gleichnisse des 13. Kap.), sowie die innere Zuchtübung
der Kirche an ihren Gliedern (Kap. 18), endlich die herrliche Erwartung
zur Stärkung in den Kämpfen, Verfolgungen und Verführungen
bis zum Ende der gegenwärtigen Weltordnung und bis zum schließlichen
Siege, den die Wiederkunft ihres Hauptes in Herrlichkeit herbeiführen
wird (Kap. 24).
Diese von Matthäus aramäisch verfaßte
Schrift wurde von dem Verfasser unsers ersten Evangeliums selbst ins Griechische
übersetzt, wie dies die in dem ganzen Werke herrschende Einheit beweist.
Bei der Übersetzung der A. Tl. Citate in der Redensammlung des Matthäus
benutzte er gewöhnlich die LXX, während er bei den prophetischen
Worten, die er selbst zur Begründung seines messianischen Nachweises
anführt, häufiger auf den hebräischen Text zurückging.
Unter diesen Verhältnissen mußte die ursprüngliche jerusalemische
Erzählung viel weniger reichlich hervortreten, als im zweiten Evangelium,
das ganz auf ihr ruhte.
Das dritte Evangelium ist unter noch eigenartigeren
Umständen entstanden. Es steht besonders zu dem zweiten in einem völligen
Gegensatz. Lukas konnte
nicht wohl früher mit der Urtradition in direkte Berührung
kommen, als bei seiner Ankunft in Palästina mit Paulus im Jahre 58.
Demgemäß bemerkt man den Einfluß dieser Tradition nur
in einer kleinen Anzahl von Stellen seiner Schrift, die den andern beiden
parallel sind. Damals waren die "Diegesen", von denen er redet (1, 1),
bereits in Umlauf und hatten die mündliche Überlieferung, die
übrigens in gewissem Grade ihre scharfen Kanten, wie Renan sagt, schon
eingebüßt hatte, zum Teil verdrängt. Sie konnte also für
Lukas nicht mehr das sein, was sie für Markus gewesen war, als sie
noch ihre ganze Frische besaß. Mit dem Inhalt dieser Urkunden, denen
er gern, soweit es möglich war, ihren antiken Duft ließ, verband
er die Nachrichten, die ihm einige Augenzeugen noch zu bieten vermochten.
Auf diese Weise erklären sich die zahlreichen Hebraismen und Aramaismen
in allen Teilen eines Werks, das doch von einem Verfasser herrührt,
der vorzüglich griechisch schrieb; denn wir besitzen von ihm manche
Abschnitte, die aus der Feder eines klassischen Autors sein könnten.
1)
Das auffallendste bei diesem Contrast, der dem Stil
des Lukas eignet, ist, daß, wie wir gesehen haben 2),
die Hebraismen und Aramaismen darin den parallelen Stücken der beiden
hebräischen Verfasser, Matthäus und Markus, meist völlig
fremd sind. Wie ist diese seltsame Thatsache zu erklären? Entweder
hat Lukas, der gebildete Grieche, die Manier und den Stil der hebräischen
Urkunden für die griechischen Leser nachgeahmt, - während Matthäus
bemüht ist, für hebräische Leser in gutem Griechisch zu
schreiben. Ist das glaubhaft? Oder aber ist es Lukas gelungen, wie
S ch l e i e r m a ch e r dies geahnt hat, aramäische Urkunden
oder Nachrichten zu erlangen, die er übersetzte oder bearbeitete,
freilich mit einer gewissen Freiheit der Wiedergabe, denn die Einheit des
Stils in seiner Schrift ist unbestreitbar. Aber als guter Geschäftsmann
hat er darauf gehalten, seiner Ware das Fabrikzeichen zu lassen, der Erzählung
ihre semitische Färbung. Daher gleichzeitig die Ähnlichkeit und
die Verschiedenheit seiner Berichte und derer des Markus. Eine gemeinsame
Grundlage ist bei beiden unverkennbar, aber Markus giebt sie nach seinen
Jugenderinnerungen und den mündlichen Erzählungen des Petrus
frei wieder - bei ihm erscheint der apostolische Bericht durchweg in seinen
scharfen Umrissen - während die Berichte des Lukas, litterarisch unabhängig
von Markus, bereits eine Bearbeitung erfahren haben, die übrigens
ihre Treue nicht berührt hat.
Dasselbe ergiebt sich aus dem Vergleich zwischen
Lukas und Matthäus. Die Art und Weise, wie Lukas den Worten des Herrn
die richtige Stelle anweist, mag immerhin von der gegenwärtigen Kritik
verkannt werden, sie zeugt unablässig durch ihre innere Vortrefflichkeit
für sich selbst und wird zuletzt aus der ihr zu Teil gewordenen willkürlichen
Behandlung sieghaft hervorgehen. Wir glauben in dieser Hinsicht unsere
Beweise geliefert zu haben. 3)
Die jerusalemische mündliche Tradition in einfacher
und treuer Wiedergabe mit einigen persönlichen Zusätzen des Petrus
im zweiten Evangelium vollständig aufgezeichnet, im ersten zum messianischen
Nachweis umgestaltet und durch die Einschaltung der Redensammlung des Matthäus
vermehrt, im dritten endlich aus ver=
1) Es gehört eine besondere Neigung,
Punkte, die als endgültig erledigt gelten konnten, wieder in Frage
zu stellen, dazu, um den semitischen Charakter des Stils im Prolog des
Lukas zu behaupten, wie dies G. L. H a h n (D a s E v
a n g. d e s L u k a s, 1892, S. 6 und 34) gethan hat.
Jedem Primaner wird bei dem Übergange vom 4. zum 5. Verse der völlige
Contrast zwischen dem Griechisch hier und dort auffallen.
2) Siehe S. 291 ff.
3) Siehe meinen Commentar über
das Evang. des Lukas, 2. (deutsche) Aufl., 1890.
schiedenen besonderen Urkunden, in die sie schon übergegangen war,
gesammelt, vervollständigt und berichtigt durch Nachrichten, die Lukas
selbst an Ort und Stelle erhalten hatte; das ist in unsern Augen kurz gesagt
der Ursprung unsrer drei Synoptiker und die natürlichste Erklärung
ihres Verhältnisses, insbesondere ihrer Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten.
Um diese Erklärung zum zwingenden Beweise zu führen, würde
eine neue Arbeit erforderlich sein; die genaue Prüfung aller Abschnitte
in diesen drei Schriften und ihrer Parallelen. Vielleicht unternimmt ein
junger Theologe diese Arbeit.
Wir können auf drei Ergebnisse hinweisen, zu
denen wir auf drei verschiedenen Wegen geführt wurden: die gegenseitige
Unabhängigkeit der drei synoptischen Schriften, die annähernde
Gleichzeitigkeit ihrer Abfassung und den Abstand der Orte ihrer Entstehung
(Markus in Rom gegen 64, Matthäus gegen 66 im Orient, Lukas etwa zu
derselben Zeit in Syrien). Diese Ergebnisse, wenn sie richtig sind, stimmen
überein. Die Unabhängigkeit der drei Berichte insbesondere läßt
sich völlig mit den beiden andern Resultaten vereinigen und erhält
durch sie ihre Bestätigung.
[Top]
V. E i n w ä n d e.
1. Der stärkste Einwand gegen die Erklärung
des Verhältnisses unsrer Synoptiker durch die mündliche Überlieferung
ist von W e tz e l gut entwickelt worden. 1)
Die Glieder der Gemeinde bedurften von Anfang an zur Nahrung die mündlichen
Berichte von den Thaten und Lehren Jesu; das entspricht den Umständen
bei der Ersatzwahl für Judas (Ap. Gesch. 1, 21-22), dem Auftrage Jesu
(Mt. 28, 20) und seiner Verheißung (Joh. 14, 26). Die Zahl derer,
die eine vollständige Kenntnis seiner Wirksamkeit besaßen, war
gering (Ap. Gesch. 1, 23), und die Gläubigen mußten das Bedürfnis
empfinden, hierin etwas Besseres als bruchstückartige Kenntnisse zu
haben. Man versteht also im Hinblick auf sie die Entstehung einer Form
der Erzählung, die den ganzen Gegenstand umfaßte. Aber gerade
da erhebt sich die Schwierigkeit. Die mündliche Überlieferung
hat im allgemeinen die Verschiedenartigkeit zur Folge; hier sollte sie
zur Einförmigkeit geführt haben. Daß ein und derselbe Berichterstatter,
der dieselbe Sache oft erzählt, bald zu einer gewissermaßen
stereotypen Form kommt, ist begreiflich. Aber wie soll man sich wörtliche
Übereinstimmung bei mehreren Erzählern, die Zeugen der evangelischen
Geschichte waren, vorstellen? Die Schwierigkeit liegt nicht darin,
wie die einmal entstandene feste Form sich e r h a l t e n
habe; die Beispiele von der Zähigkeit des orientalischen Gedächtnisses,
der wir oben gedacht haben, beweisen es zur Genüge. Die Schwierigkeit
liegt vielmehr in der Erklärung der Art ihrer E n t st e h u
n g.
Wir haben gesehen (S. 355), wie W e tz e l
selbst sie zu lösen gesucht hat. Eine so mechanische Art können
wir nicht annehmen. Zugeben muß man, daß diese Entstehung der
Tradition wie jede andre Geburt in Dunkel gehüllt ist. Allein die
Bemerkungen, die wir oben über die vorwiegende Rolle von zwei oder
drei hervorragenden Persönlichkeiten, wie Petrus oder Matthäus,
bei der Bildung der Urtradition gemacht haben, die ganz besondere Sorgfalt,
die bei der Erhaltung der Worte des Herrn walten mußte, die häufige
Wiederholung derselben Berichte durch dieselben dazu berechtigten Personen,
schienen uns die Schwierigkeit in hohem Maße zu lösen. Jedenfalls
erklärt keine andre Hypothese so natürlich wie die unsrige die
bei den Synoptikern stets wiederkehrende Erscheinung von ganzen mehr oder
weniger identischen Abschnitten, welche jedoch immer wieder von abweichenden
Ausdrücken, ja von ganz verschiedenen Textstücken
1) D i e s y n o p t. E v a n g e l i e n, S. 9 ff.
unterbrochen werden. Besonders ein Zug erklärt sich auf diese Weise
leichter als auf jede andre 1), nämlich der häufige
Contrast zwischen der völligen Übereinstimmung der R e
d e n in den drei Texten und den zahlreichen Unterschieden in der
Erzählung der T h a t s a c h e n. Oft treffen die drei
Texte da, wo der Bericht zu einem charakteristischen Ausspruch des Herrn
kommt, der den Mittelpunkt der Erzählung bildet, wörtlich zusammen,
während vorher und nachher die Abweichung mehr oder weniger erheblich
ist. Es ist durchaus begreiflich, daß die Worte in der mündlichen
Überlieferung mit größerer Strenge festgehalten wurden,
während jeder sich die Freiheit nahm, die historischen Einzelheiten
einigermaßen nach seiner Art zu erzählen, und es ist ganz natürlich,
daß diese Verschiedenheit bei der synoptischen Redaktion zum Ausdruck
kommt. Dies alles würde weit schwieriger zu erklären sein, wenn
einer der Evangelisten den Text des andern vor Augen gehabt, oder wenn
sie gemeinsame schriftliche Quellen benutzt hätten; in diesen Fällen
müßte die Übereinstimmung überall fast dieselbe sein.
Welchen Grund, fragt V e i t (S. 117),
hätten wohl alle diese kleinen unbedeutenden Änderungen in der
Erzählung der Thatsachen? Man kann sie nicht allgemein durch den Besitz
genauerer Nachrichten erklären, und die Hypothese gegenseitiger Benutzung
muß meist auf ihre Erklärung verzichten. Vom Standpunkt der
mündlichen Überlieferung erklären sich diese Verschiedenheiten
ganz natürlich.
H o l tz m a n n giebt zwar zu, daß
die Hypothese der mündlichen Tradition dem Geiste des Altertums entspricht
2),
behauptet aber, daß die Unterschiede unsrer Texte mehr den Charakter
von Umgestaltungen einer Grundschrift tragen, als den unabsichtlicher Änderungen
einer überlieferten Erzählung.
3) Uns scheint gerade
das Gegenteil das Richtige zu treffen.
4) Das hat V e
i t mit Scharfsinn nachgewiesen. Er fragt mit Recht: "Was ist doch
mit jenem "lebendigen Geist der schöpferischen Epoche" 5)
unvereinbarer, als das unaussprechlich kleinliche Abhängigkeitsverhältnis,
welches den Synoptikern in der Benutzung ihrer schriftlichen Vorlagen von
denselben Kritikern nachgesagt wird! Dieses mühselig=willkürliche
Einhalten einer gebundenen Marschroute, so lange der gute Wille dafür
ausreicht; dieses Ausspähen nach Gelegenheiten zu Verbesserungen,
die doch so oft verunglücken; diese wunderliche Vorliebe, in unbedeutende
Nebenzüge, in denen Niemand etwas vermutet, etwas besonderes hineinzugeheimnissen;
diese unverständliche Gewissenhaftigkeit, welche hier zwei Erzählungen
zusammengearbeitet, dort aus einem Spruch, einem Gleichnis, einer Erzählung
etwas Neues herausgearbeitet und dafür immer Anknüpfungen gesucht
haben soll, obwohl man nicht weiß, weshalb solche Anknüpfungen
nötig gewesen; dieses ganz prinziplose Sichabquälen mit dem Text
eines Vorgängers, wobei doch einer den andern schließlich nur
diskreditiert, statt Bestätigung zu bieten oder zu empfangen: es mag
ja sein, daß man die synoptischen Erscheinungen auf einem anderen
Wege nicht glaubt erklären zu können; aber daß dieses Verfahren
dem lebendigen Geist einer wirklich schöpferischen Epoche entspreche,
der Frische und Unmittelbarkeit einer Zeit, welche die großen Gedanken
des Christentums aus sich heraus geboren haben soll: das wird uns Niemand
einreden." 6)
1) Wie V e i t treffend
gezeigt hat (a. a. O. S. 116 ff.).
2) S y n o p t. E v a
n g e l i e n, S. 50. H a n d = C o m m., I, 1, S. 21.
3) S y n o p t. E v a
n g e l i e n, S. 50-51.
4) So wird in dem Beispiel, das er
selbst anführt (Mt. 12, 27. 28. Luk. 11, 19. 20), der Unterschied
(der G e i st Gottes bei Mt., der F i n g e r Gottes
bei Lk.) durch den unwillkürlichen Einfluß der Tradition leichter
verständlich als durch die absichtliche Überlegung des einen
der beiden Evangelisten.
5) Ausdrücke H o l tz m
a n n s (E i n l., 3. Aufl., S. 351).
6) S y n o p t. P a r
a l l e l e n, S. 94.
Holtzmann bleibt dabei, daß die wörtlichen
Übereinstimmungen von der Tradition nicht erklärt werden können.
Allein es handelt sich, wie Veit bemerkt hat, vielfach um seltene oder
auffallende Ausdrücke, die sich schon durch ihre Natur dem Gedächtnis
leicht einprägen, dann wieder um geläufige Ausdrücke, bei
denen das Zusammentreffen nichts Überraschendes hat; und fast immer
trifft man selbst in den am meisten übereinstimmenden Sätzen
(z. B. in identischen Citaten) kleine Unterschiede, die durch Unsicherheit
des Gedächtnisses leicht erklärlich, aber bei der Annahme der
Benutzung einer geschriebenen Urkunde unerklärlich sind. 1)
Endlich wendet Holtzmann ein, daß die aramäische
Sprache der ursprünglichen Erzählung die Gleichförmigkeit
unsrer griechischen Erzählungen nicht erklären könne; man
wird sich niemals vorstellen können, sagt er, wie diese stereotype
griechische Form aus der aramäischen hervorgehen konnte. - Wir verweisen
den Leser auf unsre früheren Bemerkungen über diesen Punkt. 2)
Übrigens findet sich bei Holtzmann ein charakteristischer
Passus gegen die Annahme der Benutzung des einen Evangeliums durch den
Verfasser eines andern, der sich auf sein früheres System, noch mehr
aber auf seine gegenwärtige Theorie anwenden läßt, nach
der er die Benutzung nicht allein des Markus, sondern auch des Matthäus
durch Lukas annimmt; er sagt: "So hat sich die Benutzungshypothese nach
keiner der an sich offenstehenden Richtungen als gangbar erwiesen. Bei
jeder Combination stellen sich Schwierigkeiten heraus, die nicht in der
Rechnung aufgehen wollen. Wäre dies aber auch nicht der Fall, so unterliegt
die genaueste Hypothese noch an sich selbst bedeutenden Bedenken. Man erwäge
die wenig schreibende Zeit, die den christlichen Schriftstellern ungünstigen
Verhältnisse, die Kargheit im Schreiben, die auch bei jedem unserer
Evangelisten bemerklich ist, und man wird es befremdlich finden, wie solche
Schriftsteller sich zur Ausarbeitung eines neuen Buches entschließen
mochten, wenn dies doch in seiner Hauptmasse nur eine Überarbeitung
schon vorhandener Schriften war, und es viel näher gelegen hätte,
den Vorgänger mit Supplementen zu versehen, anstatt ihn ab= und auszuschreiben.
- Und w i e wäre dies Ab= und Ausschreiben beschaffen
gewesen! Woher dann die Differenzen im Einzelnen und in der Stellung und
Reihenfolge ganzer Erzählungen? Warum ersetzt der Nachfolger deutlichere
Erzählungen seines Vorgängers mit ungenaueren? Warum schreibt
er bald wörtlich ab, um alsbald unmotiviert wieder abzuweichen? Woher
besonders die Auslassungen? . . . So entspricht sowohl die Art, wie die
Bearbeitung des Einen durch den Andern vor sich gegangen sein müßte,
wenig dem schriftstellerischen Charakter unserer
1) Vergl. die zahlreichen im 3. Kapitel
der V e i t ' schen Schrift angeführten Beispiele (insbesondere
S. 120 ff.): er sagt zum Schluß (S. 129): "Bleibt nun aber als letzter
Erklärungsgrund für die synoptischen Varianten überhaupt
den Anhängern der Kombinationshypothese fast immer nur übrig
die Willkür des jeweiligen Nachfolgers in der Wahl, ob er seinen Vorgänger
habe wörtlich abschreiben, oder ob er ihn habe abändern, kürzen,
ergänzen wollen: so sehen wir nicht ein, mit welchem Recht diese Ansicht
sich soll wissenschaftlicher nennen dürfen, als die Herleitung dieser
Erscheinung aus der allerdings unberechenbaren Wandelbarkeit der mündlichen
Überlieferung, welche aber ihrer Natur zufolge, und deshalb ebenso
unwillkürlich als unvermeidlich, mit dieser Wandelbarkeit und Unberechenbarkeit
behaftet ist." Dies gilt gegen das H o l tz m a n n ' sche Wort (Einl.
S. 351): "Die Traditionshypothese sei das eigentliche a s y l u m
i g n o r a n t i a e der Apologetik". "Aber, sagt V e i t
sehr richtig (S. 120), das Ignoramus ist auf diesem Punkt so oft auch die
letzte Zuflucht der Kombinationshypothese. Dabei hat es für sie noch
eine ganz andere Bedeutung. Es ist das Bekenntniß ihrer Impotenz,
während die Traditionshypothese sich grade auf die Erkenntniß
der Thatsache gründet, daß eine ausreichende sachliche Erklärung
aller jener Differenzen unmöglich ist, daß aber die Plan= und
Regellosigkeit derselben einer Sachlage entspricht, wie sie aus dem Verlauf
mündlicher Überlieferung resultiert und sich erwarten läßt."
2) S.
413-414.
Autoren, als auch bleibt, man mag sie ordnen, wie man will, immer noch
gar Manches übrig, was der spätere übergangen hätte,
ohne daß man einen zureichenden Grund dafür auffinden könnte."
1)
Wir könnten wirklich nichts Besseres gegen
Holtzmann selbst sagen, sowohl vor als auch nach dem, was er seinen "Frontwechsel"
nennt.
2. P a u l E w a l d 2)
hat gegen eine jerusalemische Tradition als gemeinsame Quelle unsrer Synoptiker
einen ernsten Einwand erhoben, den bereits M e y e r ausgesprochen
hatte, nämlich die Unmöglichkeit, daß sich eine anerkannt
apostolische Erzählung unter den Augen des Apostels Johannes ohne
seine Mitwirkung und in einer von der seinen durchaus abweichenden Art
formuliert haben könne; er tritt deshalb entschieden für die
Beteiligung dieses Apostels an der Bildung der Tradition ein und sieht
sich, wie wir schon gesagt haben, zu der Annahme veranlaßt, daß
der synoptische Typus ein an besonderem Ort und unter besonderem Einfluß
entstandener Seitenzweig des großen Stammes der Tradition sei. Papias
nun belehre uns, von wem dieser Sondertypus der evangelischen Erzählung
ausgegangen sei: von Markus, der gewöhnlich aus den Berichten des
Petrus schöpfte, welche sich nach der diesem Apostel natürlichen
Vorliebe besonders mit der Wirksamkeit in Galiläa beschäftigten.
Daher der Charakter des 2. Evangeliums, das für die römische
Gemeinde geschrieben war, und ebenso der des Matthäus= und Lukas=Evangeliums,
die ebenfalls in Italien und unter dem Einfluß des Markus verfaßt
wurden, das eine für die zahlreichen Judenchristen dieses Landes,
das andre für ehemalige Heiden (unter Einschaltung des großen
Stückes 9, 51- 18, 14 aus einer andern von den Logia ganz verschiedenen
Urkunde in den Rahmen des Markus).
So begründet die Schwierigkeit ist, die diese
Hypothese veranlaßt hat, so unwahrscheinlich ist die vorgeschlagene
Lösung. Sollte Petrus so sehr unter dem Eindruck seiner galiläischen
Erinnerungen gestanden haben, daß er eine ebenso unvollständige
wie einseitige Tradition schuf? Wie sollte der Typus der evangelischen
Tradition, der auf die Gesamtkirche übergegangen ist, in Italien und
unter ganz persönlichen und lokalen Einflüssen seinen Ursprung
haben? Trägt nicht das 1. Evangelium die deutlichen Spuren seiner
orientalischen Herkunft und seiner unmittelbaren Beziehung zur palästinensischen
Tradition an sich? Kannte nicht Lukas, ehe er nach Rom kam, die Gemeinden
Syriens,
1) S y n o p t. E v a n
g e l i e n, S. 64. Über diese von Holtzmann so klar entwickelten
Punkte, vergl. V e i t, S. 129 ff. Über die in Parallel=Erzählungen
vorhandenen Detaildifferenzen sagt er sehr gut (S. 136): "Man kann den
Text des einen nicht als nachträgliche, frei erfundene Verbesserung
des andern auffassen, weil diese Erscheinung sich gleichmäßig
über alle Drei erstreckt; bald müßte Matthäus, bald
Markus, bald Lukas die beiden andern ergänzt, verbessert haben. Also
ist diese Erscheinung eine Instanz für die Traditionshypothese, und
zugleich eine namhafte Bürgschaft für die Treue, mit welcher
die Tradition in der den Evangelisten selber gegenwärtigen oder sonst
von ihnen vorgefundenen Fassung zur Niederschrift gekommen ist." - Siehe
besonders S. 140-144 (über die Abendmahlsberichte) und 158 ff. (über
die Verteilung des Berichtsstoffs unter die Evangelisten). Veit hebt die
merkwürdige Thatsache hervor, daß es Matthäus, der Judenchrist,
ist, der von der Verkündigung der Heilandsgeburt an die heidnische
Welt ausgeht, die Weisen aus Morgenland das Christuskind aufsuchen und
anbeten, den Judenkönig Herodes es verfolgen läßt, dieses
Kind in das heidnische Ägypten rettet, - während Lukas, der Pauliner,
in den Verheißungen an Maria, in ihrem Magnifikat, im Lobgesang des
Zacharias die Hoffnung Israels feiert, die Gesetzeserfüllung der Beschneidung,
des Reinigungsopfers, der Darstellung berichtet und in der Erzählung
von dem Besuch des Zwölfjährigen dem Tempel eine so hohe Sanktion
erteilt: "ist es nicht eine wahre Ironie des Schicksals, daß diese
beiden Berichte nicht umgekehrt stehen, Matth. 1 und 2 bei Lukas, Luk.
1 und 2 bei Matthäus?" (S. 161). - Eine ähnliche Ironie könnte
in den Auferstehungsberichten hervorgehoben werden (ibid.).
2) Siehe hierüber S.
357-358.
Kleinasiens und Griechenlands, und konnte ihm die allgemeine Form der
christlichen Tradition fremd sein?
Aber die angegebene Schwierigkeit bleibt bestehen.
Kann sie völlig gelöst werden? Vor allem ist der zurückhaltende
Charakter des Johannes zu berücksichtigen, der sich im Evangelium
wie in der Apostelgeschichte immer im Hintergrunde hält (siehe Ap.
Gesch. 2, am Pfingstfeste, 3, im Tempel, 5, vor dem Sanhedrin, 8, in Samarien,
15, bei der Conferenz in Jerusalem). Überall spielt er eine fast verschwindende
oder gar keine Rolle, obwohl ihn Paulus (Gal. 2) ebenso wie Petrus und
Jakobus als "Säule" bezeichnet; er scheint es mehr durch seine Gegenwart
als durch direktes Eingreifen gewesen zu sein. Allein es walteten dabei
wohl noch entscheidendere Gründe ob. Die älteste apostolische
Erzählung mußte notwendig einen elementaren Charakter annehmen.
Johannes besaß andre Erinnerungen, mehr innerlicher Art, die wenig
geeignet waren, in dem Unterricht für die ersten Gläubigen einen
Platz zu finden, oder gar von den Evangelisten, deren Aufgabe es war, die
Tradition in den Gemeinden zu verbreiten, mit Genauigkeit wiedergegeben
zu werden. Der Bericht über die Besuche Jesu zu Jerusalem hatte offenbar
für diese Gläubigen nicht denselben Reiz oder denselben Wert
wie die Vorgänge des Lebens in Galiläa und die sich daran anschließenden
Lehren rein moralischer Natur. Die Reisen nach Jerusalem hatten, abgesehen
von der letzten, seit der Katastrophe, die diese mit sich brachte, und
die von jenen nur vorbereitet worden waren, an Interesse verloren. 1)
Dies erklärt den eigenartigen Ausdruck, den
Paulus in seiner Predigt zu Antiochien in Pisidien wählt (Ap. Gesch.
13, 31): "Und er ist erschienen . . . denen, die mit ihm von Galiläa
nach Jerusalem hinaufgegangen waren, welche nun seine Zeugen vor dem Volk
sind." Vom Gesichtspunkt des nunmehr vollendeten Thatsachen des Todes und
der Auferstehung Christi aus erschien die ganze Wirksamkeit Jesu, wie
W i ch e l h a u s gesagt hat, gleichsam als "e i n f
e i e r l i ch e r H e r a u f z u g" zur heiligen Stadt. Die
mehrfachen kürzeren Besuche Jesu daselbst hatten für die Belehrung
der Gemeinden nicht denselben Wert wie für uns.
3. B o v o n fragt, wenn die mündliche
Überlieferung die Quelle unsrer drei Synoptiker wäre, ob alsdann
nicht die Leidens= und Auferstehungsgeschichte, die am häufigsten
wiederholt wurde, in den drei Schriften am meisten wörtlich ähnlich
lauten müßte. Der Bericht des Lukas aber weicht hier gänzlich
von den beiden andern ab. - Das ist wahr; aber wir haben aus unabweisbaren
Anzeichen erkannt, daß Lukas seine besonderen Quellen hat, die bald
mündlich, bald schriftlich, bald in Übereinstimmung mit der Tradition,
bald unabhängig von ihr sind. Gerade in diesem Abschnitt nun ist die
Verschiedenheit der
1) Die apostolische Tradition hatte wohl einen historischen Inhalt, nicht aber einen historischen Zweck. Die Erzählung der Geschichte Jesu sollte nicht einfach zur Belehrung dienen, sondern zur Weckung des Glaubens. Es handelte sich also nicht darum, alle Einzelheiten zu beachten, die uns von unsrem historischen Gesichtspunkt aus wichtig erscheinen. Johannes hat freilich deren mehrere, unter andern die Reisen nach Jerusalem hervorgehoben, aber deshalb, weil sich Reden daran knüpften, die in der mündlichen Urtradition keinen Raum gefunden hatten, und die, entsprechend seinem Plane (das fortschreitende Anwachsen des jüdischen Unglaubens, der die Katastrophe herbeiführte, nachzuweisen), insgesamt für ihn von hervorragendem Werte waren. Dies bewahrheitet sich besonders bei der vorletzten, der Reise nach Bethanien zur Auferweckung des Lazarus, deren hauptsächlichste Bedeutung für ihn nicht in dem Wunder selbst lag, sondern in der innigen Beziehung desselben zu der schließlichen Katastrophe. Wie Markus und Matthäus eine Totenerweckung berichtet hatten (der Tochter des Jairus, und ebenso Lukas eine eigne hat, des Jünglings zu Nain), so wurde auch Johannes dazu geführt, seinerseits eine solche zu erzählen.
Quelle von den beiden andern offenbar. 1) Was Markus und
Matthäus betrifft, so ist entweder der Bericht des einen von dem des
andern abhängig, oder beide geben dieselbe Tradition wieder. Wir haben
die Unmöglichkeit der ersten Annahme festgestellt, folglich ist die
zweite die allein richtige. In beiden Fällen aber ist daraus kein
Schluß gegen das Vorhandensein einer fest bestimmten jerusalemischen
mündlichen Tradition zu ziehen.
4. W e i ß stellt es in seiner
E i n l e i t u n g (§ 44, 3) "als unzweifelhaft hin, daß
die apostolischen Mitteilungen sich gegenseitig ergänzen und rectificieren,
daß sie zumal bei der Armut der aramäischen Sprache, allmählig
eine stereotype Gestalt gewinnen mußten, namentlich in den am häufigsten
wiederholten Stücken". Aber er stellt in Abrede, "daß von einer
Einlernung oder gar Übersetzung dieses Traditionstypus die Rede sein
könne". In seiner Schrift über M a t t h ä u s
u n d s e i n e L u k a s p a r a l l e l e n hat er
einige Seiten 2) darauf verwandt, die Darlegung der Hypothese
der mündlichen Tradition, die ich in meinem C o m m e n t a
r z u m L u k a s e v a n g e l i u m gegeben hatte,
zu widerlegen. Man darf sich, denkt Weiß, über die Änderungen,
denen ein Evangelist den Wortlaut und die Worte des Herrn einer fertigen
Redaktion gegenüber unterzogen hat, nicht mehr wundern, als über
die, welche die Tradition daran vorgenommen hat. Im Grunde kommt das auf
dasselbe hinaus. - Es liegt aber doch der Unterschied vor, daß diese
unwillkürlich sein können, während jene überlegt und
absichtlich sind, was für deren Wertschätzung keineswegs "dasselbe"
ist.
Weiß fragt, wie Lukas von den Umständen
und besonderen Anlässen, die er den Worten des Herrn zuweist, Kenntnis
erlangt haben könne. Sagt er es nicht selbst in seinem Prolog? Er
hat sich e r k u n d i g t, und zwar g e n a u,
besonders sofern es sich um die R e i h e n f o l g e der Begebenheiten
handelte. Ich glaube in meinem Commentar und auch in dem vorliegenden Werke
deutlich genug nachgewiesen zu haben, welch vorzüglichen Erfolg diese
an Ort und Stelle vorgenommenen Erkundigungen gehabt haben.
Endlich schiebt Weiß die Schuld meiner Abneigung
gegen die neuere Kritik und ihre Folgerungen auf "meine Vorstellung von
der Inspiration der kanonischen Evangelien". Was ich auf Grund des Prologs
des Lukas über die Art und Weise der Abfassung dieser Schrift gesagt
habe, sollte hinreichen, Weiß eines besseren zu belehren und mich
vor dieser Unterstellung zu schützen. In meinen Augen ist es nicht
die Inspiration der biblischen Autoren, die der ihnen zugeschriebenen Behandlung
der Worte und der Geschichte Jesu im Wege steht, sondern ihre Ehrlichkeit.
Für mich ist es unmöglich zu glauben, daß ein aufrichtiger
Verfasser die Worte eines Menschen, der für ihn und (wie er weiß)
auch für seine Leser die maßgebende Autorität ist, beliebig
umgestaltete, während ihm eine Schrift vorliegt, in der er sie genau
vorfindet; daß er zum Beispiel von sieben Seligpreisungen drei wegläßt
und vier Weherufe hinzufügt, daß er anstatt "nur einen Stab"
setzt "nicht einmal einen Stab", daß er die Aussendung der siebzig
Jünger einfach erfinde, um eine an die Zwölf gerichtete Ansprache
auf sie anzuwenden, usw. Ein solches Verfahren erscheint mir übrigens
nicht allein vom Gesichtspunkt der Geradheit aus unzulässig, sondern
auch von dem der Logik. Schenkt der Verfasser seiner Quelle Vertrauen,
warum erlaubt er sich, sie zu ändern? Schenkt er ihr keins, warum
glaubt er sie für die Zwecke der Gemeinde abschreiben zu müssen?
S i m o n s denkt,
1) Sie ergiebt sich zum Beispiel deutlich
aus folgenden Thatsachen: den Worten Jesu an die Töchter Jerusalems,
der Weglassung der großen Sitzung des Sanhedrin in der Nacht, den
drei Worten am Kreuz, die nur Lukas hat, dem reuigen Schächer, usw.
2) S. 61-63.
daß man damals den Schriften, die man benutzte, nicht wie wir
einen kanonischen Wert beimaß. Sehr wohl! Allein wenn man sie als
Quellen benutze, so geschah dies, weil man sie für glaubwürdig
hielt.
[...]
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